Andrea Sawatzki und „Der Blick fremder Augen“ im Kaisersaal
Kriminelle Energie
Von Sigurd Schwager
Das war, natürlich, kein Abend wie jeder andere. Der Terror, der Horror von Paris ist auch am Sonntag nach dem schwarzen Freitag allgegenwärtig. Fassungslosigkeit über das Morden, Wut, Trauer, Mitgefühl. Monika Rettig, die Herbstlese-Programmchefin, und Dirk Löhr, der Vereinsvorsitzende, stehen gemeinsam auf der Bühne und sind eins mit dem Publikum im beharrlichen, kämpferischen Aber: Wir glauben an die Kraft der Aufklärung!
Alle Lese-Gäste im ausverkauften Erfurter Kaisersaal erheben sich von ihren Plätzen für eine gedenkende Minute des Schweigens. Es ist dies der bewegendste Moment der Erfurter Herbstlese 2015. Stille.
Dann kehrt das Leben mit Beifall in das ehrwürdige Haus zurück. Er gilt der Schauspielerin und Autorin Andrea Sawatzki sowie Christiane Weber vom MDR, die – das wird der weitere Verlauf zeigen – mit ihrer klugen, charmanten Gesprächsführung einen nicht geringen Teil zum Gelingen des schönen Abends beiträgt.
Andrea Sawatzki hat ihren neuen Roman "Der Blick fremder Augen" nach Erfurt mitgebracht, immerhin ihr bereits viertes Buch seit 2013. Nach „Tief durchatmen, die Familie kommt“ und „Von Erholung war nie die Rede“ kehrt sie 2015 zurück in das Milieu ihres literarischen Debüts „Ein allzu braves Mädchen“ und präsentiert ihren zweiten Psychothriller mit Kommissarin Melanie Fallersleben, dem wohl in absehbarer Zeit noch ein dritter folgen wird.
Andrea Sawatzki setzt im Kaisersaal mit ihrer Lesung da ein, wo auch das Buch beginnt. Und so lauschen wir denn dem Prolog: „Endlich erreicht die Frau den Wald. Es regnet jetzt in Strömen. Im Laufen sieht sie sich um, lässt den Blick rasch über die Felder gleiten. Keine Menschenseele weit und breit. Der Wind peitscht durch die Ähren, reißt Schneisen ins satte Gelb. Wie ein gelbes Meer, schießt es ihr durch den Kopf. Dann pfeift sie nach ihrem Hund und rennt weiter . . .“ Wenige Zeilen später wird der Hund in ihren Armen sterben, und sie selbst ein Schlag treffen, dass sie hintenüberkippt.
Aus einem neuen Krimi zu vorzutragen und über ihn zu reden, ist keine einfache Sache. Denn verrät man dem Zuhörer zu viel, löst gar die Spannung auf, wird er weniger geneigt sein, das Buch zu lesen. Andrea Sawatzki, mit ihrer geschickter Kapitel-Auswahl, und Moderatorin
Christiane Weber, mit ihren Fragen, halten die notwendige Balance. Andrea Sawatzki, die von 2001 bis 2009 als Frankfurter Hauptkommissarin Charlotte Sänger die große Tatort-Gemeinde mit charakterstarker Schauspielkunst beeindruckte, erzählt in Erfurt, dass das Thema ihres
Neuen Buches sie schon immer interessiert habe: unglückliche Kindheit, unterdrückte Erinnerungen daran, unbewältigte Traumata, die kriminelle Entwicklung von Menschen mit frühen Schicksalsschlägen.
Im Gespräch mit Christiane Weber gesteht sie ihren Hang zum Düsteren, zum Dunklen. „Ich habe eine ziemlich große kriminelle Energie“, sagt sie und lacht. Dass sie nach dem Schreiben eines gelungenen mörderischen Buchkapitels gut schlafen kann, glaubt man ihr sofort.
Man hört ihr zu und wünscht sich die düstere Ermittlerin Charlotte Sänger auf den Bildschirm zurück. Vergeblich. Dieses Berufskapitel hat Andrea Sawatzki abgeschlossen.
Immerhin: Es besteht kriminelle Hoffnung, erfährt das Erfurter Publikum. Die Filmrechte für den Psychoschocker „Der Blick fremder Augen“ sind bereits vergeben. „Wenn das Buch tatsächlich verfilmt werden sollte“, sagt die Autorin, „würde ich mich für die Rolle der Kommissarin Melanie Fallersleben bewerben.“
Sich selbst müsste sie dann allerdings nicht spielen, denn abgesehen vom Alter, eine Frau um die 50, lassen sich kaum Gemeinsamkeiten zwischen ihr und ihrer Figur finden. Jenseits von krimineller Energie trifft die Autorin Sawatzki schon bald die Schauspielerin Sawatzki. „Tief durchatmen, die Familie kommt“ wurde bereits in bewegte Bilder verwandelt, die am 21. Dezember im ZDF zu besichtigen sind. Hauptrolle: Andrea Sawatzki. Ihren Gatten spielt, nein nicht ihr realer Ehemann Christian Berkel, sondern Axel Milberg. Hinzu kommt von Christine Schorn bis Uwe Ochsenknecht weitere Schauspielprominenz. Man darf also in freudiger Familiengeschichten-Erwartung sein.
Die heiteren Anekdoten, die Andrea Sawatzki in Erfurt über den charmanten Gatten Christian Berkel, die Söhne Moritz und Bruno sowie die fidelen Hunde des Hauses erzählt, tun ein vergnügliches Übriges.
Kräftiger, warmherziger Beifall für Andrea Sawatzki, aber auch für Christiane Weber und für die dritte Dame auf der Bühne, für Monika Rettig, die den beiden mit Schoko-Trüffeln dankt.
„Es ist immer wieder schön, in Erfurt zu sein“, sagt Andrea Sawatzki. Die Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit.
Andrea Sawatzki im Kaisersaal
Fotos: Uwe-Jens Igel