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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Nov. 06 2014

Dennis Gastmann im Ratsgymnasium

Liebevolle Realsatire

Die Ruhe vor dem Sturm. Gleich beginnt in der Aula die Lesung mit Dennis Gastmann. Es ist die zweite bei der Herbstlese. Bei der ersten vor drei Jahren "kam schon ein Milllion" Besucher, erinnert sich der Autor.
Die Ruhe vor dem Sturm. Gleich beginnt in der Aula die Lesung mit Dennis Gastmann. Es ist die zweite bei der Herbstlese. Bei der ersten vor drei Jahren "kam schon ein Milllion" Besucher, erinnert sich der Autor.

Der Dennis Gastmann ist ein Guter, keine Frage. Wenn er so hellblau hervorschaut unter den sorgfältig zerwuselten blonden Haaren, könnte er von vielen fast alles bekommen. Knuffig nennt das die Jugend heute. Sein Blick allein reicht aber nur für die halbe Miete. Natürlich lassen sich Menschen lieber mit anderen Menschen ein, die sie auf Anhieb mögen. Doch beim Nordlicht Dennis überzeugt auch der zweite Blick. Der 36-Jährige wird den meisten seiner Gesprächspartner mit der Zeit noch sympathischer. Das nutzt er für seine Videos und Reportagen gnadenlos aus, die so spät im Fernsehen laufen, dass sie einfach gut sein müssen.

Im Erfurter Ratsgymnasium brauchen die Besucher nicht ganz so lange aufbleiben. Punkt 20 Uhr geht es los. Indes, der Abend wird kein kurzer. Zwei Abteilungen, durch eine Pause getrennt, schieben das Ende der Lesung weit nach 22 Uhr. Das ist nicht völlig ungewöhnlich für die Herbstlese, wenn auch eher selten. Im Regelfall hält den einen Zuhörer oder die andere Besucherin zu fortgeschrittener Stunde nichts mehr, und sie gehen. Bei Dennis Gastmann bleiben wirklich fast alle bis zum Schluss.

Das hat sicher mit dem Format des Abends zu tun. Der Protagonist sitzt nicht einfach im Licht seiner Leselampe vor dem Auditorium und liest aus seinen Werken. An diesem Abend gehören bewegte Bilder dazu, Aufnahmen von den Reisen „Mit 80 000 Fragen um die Welt“ zum Beispiel. Aber auch Bilder, die auf das Thema einstimmen sollen. Auf der Straße befragt Dennis Gastmann dazu reiche Menschen, vor Einrichtungen, die reiche Menschen frequentieren, zu Dingen, die - pardon - geistige Armut in einigen Antworten erkennen lassen. So schallt es gleich zu Beginn recht unverblümt von der Leinwand: „Mit ehrlicher Arbeit werden Sie nicht reich.“

Dennis Gastmann versucht es dennoch. Mit ehrlicher journalistischer Arbeit. Dabei entsteht gleichsam ein Sittengemälde der Wohlhabenden in der Welt. Zumindest derer, die mit ihm reden.

Die Liste der abschlägigen Antworten ist lang. In der Tat wollen sich die meisten Superreichen nicht darauf einlassen, die Gretchenfrage des Autors zu beantworten: Was bedeutet Geld, wenn Geld keine Rolle mehr spielt? So bleiben für die Interviews die, die sich auch anderen mitteilen; Wolfgang Grupp etwa, der für seine affige Werbung vor der Tagesschau bekannt ist. Oder Reinhold Würth, der Schraubenkönig. Der gilt aber immerhin als Nummer 7 auf der Liste der Reichsten in Deutschland.

Es ist jetzt nicht so, dass diese Herren in den abgezählten Minuten, die sie dem Journalisten von ihrer wertvollen Zeit schenken, die Gretchenfrage beantworten würden. Wobei fraglich bleibt, ob sie es denn überhaupt könnten. Daher stehen am Ende der Gespräche auch nur bestenfalls Kalenderwahr- oder -weisheiten, wie Dennis Gastmann selbst eingesteht. Allerdings mit dem Zusatz, nur weil sie Kalenderwahr- oder -weisheiten sind, müssen sie ja nicht gleich falsch sein.

Nein, wer von der „Geschlossen Gesellschaft“ einen wirklichen Reichtumsbericht erwartet, muss enttäuscht werden. Hier wird nicht investigativ aufgedeckt, wie es bei den Reichen zugeht. Muss es ja auch nicht, die Stärken von Dennis Gastmanns liegen woanders: in der sensiblen Beobachtung fremder Milieus und der respektvollen wie satirischen Verarbeitung dieser Eindrücke, was gelegentliche Respektlosigkeiten natürlich einschließt. Man könnte es liebevolle Realsatire nennen. Ihr wichtigster Indikator: Fremdschämen ist meist nicht nötig.

Das macht den großen Blonden aus dem hohen Norden so leicht keiner nach, das ist sein Markenkern. Dafür, und der Abend in Erfurt ist der beste Beweis für diese These, liebt ihn sein Publikum. So sehr, dass, wie schon gesagt, wirklich fast alle bis in den späten Abend hinein auf ihren Stühlen ausharren.

Liebevolle Realsatire

Fotos: VIADATA

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