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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 29 2021

Lukas Rietzschel stellt seinen Roman „Raumfahrer“ zur Herbstlese vor

Menschen zwischen den Zeiten

Lukas Rietschel im Kultur: Haus Dacheröden. (Foto: Uwe-Jens Igel)
Lukas Rietschel im Kultur: Haus Dacheröden. (Foto: Uwe-Jens Igel)

Von Sigurd Schwager

Herbstlese bildet. Hier trifft man immer wieder interessante Leute aus (fast) aller Welt. Zum Beispiel aus Räckelwitz, genannt auch Worklecy. Kennen Sie Räckelwitz? Nein. Sollten Sie vielleicht doch. Denn die deutsch-sorbische Gemeinde Räckelwitz und ihre Ortsteile mit den nicht minder klangvollen Namen Dreihäuser, Höflein, Neudörfel, Schmeckwitz und Teichhäuser beherbergen zwar nur elfhundert Einwohner, aber genau auf diesem sehr überschaubaren Oberlausitz-Flecken standen schon erstaunlich viele Wiegen künftiger Prominenz.

1833 für Michal Hornik, den großen Förderer des sorbischen Schrifttums. 1916 für Jurij Brezan, den bedeutendsten sorbischen Autor des 20. Jahrhunderts.1956 für Angela Hampel, die hochgeschätzte Malerin und Grafikerin. 1959 für Stanislaw Tillich, den sächsischen Ministerpräsidenten. 1973 für Olaf Pollack, den Bahnrad-Olympiasieger und -Weltmeister. 1985 für Tino Semmer, den Fußballer, der unter anderem für Rot-Weiß Erfurt mehr als 100 Pflichtspiele in der dritten Liga absolvierte.

Der jüngste Vertreter der Geboren-in-Galerie ist ein preisgekrönter Schriftsteller, Jahrgang 1994, der nun seinen Herbstlese-Einstand gibt: Lukas Rietzschel. Er ist erst 27, aber längst kein Anfänger mehr. Im zarten Alter von 24 Jahren veröffentlicht er 2018 seinen Debütroman „Mit der Faust in die Welt schlagen“, in dem er das Nachwende-Leben in der ostsächsischen Provinz thematisiert. Das Buch wird zum Bestseller und erobert ein Jahr später auch die Dresdner Theaterbühne.

2021 gelangt Rietzschels Drama „Widerstand“ am Schauspiel Leipzig zur Uraufführung und sein zweiter Roman „Raumfahrer“ in die Buchläden.

Und auch damit bleibt er Liebling der Literaturkritik. Vielschichtig und gekonnt komponiert, so urteilt die Süddeutsche Zeitung über die teilweise auf Tatsachen beruhende Geschichte um die Baselitz-Brüder, die der Autor mit jener des jungen Krankenpflegers Jan aus der Oberlausitz verzahne. Stasiroman und postsozialistisches Zeitpanorama mit einem ordentlichen Schuss Heimatliebe.

Ähnlich sieht es Karsten Jauch in der Thüringer Allgemeinen: „Es ist die Beschreibung einer Landschaft, einer Generation, die nichts zu erwarten hat. (...) Es ist die Gleichförmigkeit der ostdeutschen Provinz: ein bisschen depri, aber voller Heimatliebe.“ Der DLF-Kritiker wiederum zeigt sich angetan von einem dramaturgisch dichten Sittengemälde. Lukas Rietzschel verbinde die Intrigen der Stasi mit dem nostalgiefreien Porträt eines verödenden sächsischen Landstrichs und zeige: Helden fallen in jedem Jahrhundert.

Verdientes Lob schützt allerdings nicht vor Schubladen, die sich öffnen: Endlich ein neuer, ein frischer Versteher des ostdeutschen Lebens, der ostdeutschen Zustände und Umstände! Herbstlese-Programmchefin Monika Rettig stellt nach dem herzlichen Willkommen im Kultur: Haus Dacheröden dem jungen Autor sogleich die Frage, wie er denn mit dem Etikett des Ost-Erklärers zurechtkomme. Nein, antwortet er, eine solch Rolle gefalle ihm gar nicht Andere, die sich länger und besser auskennen, Jana Hensel zum Beispiel, gebe es viele.

Das Interesse an seinem Erstling sei natürlich auch Glückssache gewesen. 2018 habe der Roman genau zu der Zeit in den Buchgeschäften gelegen, als das Thema wegen der Chemnitzer Ereignisse in aller Munde war. Plötzlich werde man um ein großes Radio-Interview gebeten, ein zweites folge, dann ein drittes. So nähmen die Dinge eben ihren Lauf.

Man merkt in Erfurt, dass der junge Erfolgsautor nicht dazu neigt, die Bodenhaftung zu verlieren. Nachdenklichkeit, Beobachtungsgabe, Humor und Melancholie - es macht Spaß ihm zuzuhören, mit ihm Gedanken zu teilen.

Auf den Weg zu seinen Roman-Anfängen nimmt Lukas Rietzschel das Erfurter Herbstlese-Publikum mit nach Hoyerswerda, erzählt von einem Mann, der dort nach Orten seiner DDR-Kindheit sucht. Doch es gibt das Alte nicht mehr. Kein Kinderzimmer. Der Wohnblock abgerissen. Kein Spielplatz. Keine Schule. Und keine Worte dafür. Menschen haltlos zwischen den Zeiten. So sei das Raumfahrer-Bild entstanden.

„Meine Perspektive ist die der Nachgeborenen, die dem Schweigen der Eltern und Großeltern auf den Grund gehen wollen.“ Im Buch beschreibt er es so: „Mutter, Vater. Für Jan waren sie Raumfahrer. Schwebten in einer Zwischenwelt, ihrem Ausgangspunkt entrissen. Während sie schwebten, hatte sich die Welt schon ein Dutzend Mal weitergedreht. Sie sahen dabei zu, streckten die Hände aus. Versuchten, vor- und zurückzukommen. Hoch, runter. Aber wo sie sich befanden, gab es keine dieser Richtungen im Raum.“

Lukas Rietzschel liest aus mehreren Kapiteln seines Romans und man versteht, warum ältere Leute ihn nach der Veranstaltung ansprechen und sagen, dass sie es genauso erlebt hätten. Der erste „Raumfahrer“-Satz lautet übrigens: „Das war eine Nacht, in der wieder nichts passieren würde.“ Und am Tage auch nicht: „Mittlerweile standen sogar schon die Gewerbegebiete und Einkaufszentren leer, die als Allheilmittel vor die Städte auf die grüne Wiese gepflanzt worden waren. Verlängerte Werkbank, da ging es noch gut. Irgendwann Nagelstudios, Handyhüllenläden, Tedi, MäcGeiz, dann lange nichts und schließlich ein Investor, der das kleine Einkaufszentrum vor der Stadt in eine Paintballhalle umnutzen wollte.“

Eine ganz andere wunderbare Bildbeschreibung erhofft sich Monika Rettig. Sie gilt dem weltberühmten Maler aus Deutschbaselitz, der mit seinem Bruder einen gewichtigen Platz im Buch einnimmt. Wunschgemäß trägt der kunstsinnige Autor Kapitel VII vor. Es handelt von Georg Baselitz und seinen Heldenbildern, entstanden in den 60er Jahren.

„Zu sehen waren dunkelbraune, schwarze Bildhintergründe, als wäre die Nacht nichts anderes als ein Erdloch. Bäume ohne Blätter. Die Äste abgebrochen, aber noch schwebten sie in der Luft. Vor oder unter ihnen, im Vordergrund, standen Männer, die sogenannten Helden. (...) Bruchkanten und Risse waren sichtbar und durchzogen die Männer und alles um sie herum. Eine Erschütterung und alles würde auseinanderfallen. Baselitz hatte den letzten Moment einer noch irgendwie intakten Welt festgehalten, für alle sichtbar, dass es sie danach nicht mehr geben würde. (...) Das waren keine Helden mehr, waren es vielleicht nie gewesen..."

Schon allein für die Bildbetrachtung muss man das Buch mögen. Ob es irgendeinen Kommentar von Baselitz gegeben habe, möchte Monika Rettig wissen. Lukas Rietzschel verneint. „Wenn er damit nicht einverstanden wäre, hätten sich seine Anwälte gemeldet und ich gegen sie wohl keine Chance.“ Er schickt ein Lächeln ins Publikum: „Also kaufen Sie, solange es da Buch noch gibt.“ Oder das von Schauspieler Christian Friedel eingelesene Hörbuch.
Nachdem das Erfurter Publikum wohlwollend zur Kenntnis genommen hat, dass „Raumfahrer“-Filmpläne existieren, entlässt es den Gast mit viel Beifall. Der wiederum wird sich demnächst aus seinem Wohn- und Arbeitsort Görlitz verabschieden, um nach Los Angeles zu reisen.

Nicht als Drehbuchautor, sondern als Stipendiat der Villa Aurora.
 

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