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Okt. 19 2022

Rudolstädter Intendant stellt neues Buch „Hausers Ausflug“ vor

Menschings Welt

Novelle oder Roman? Steffen Mensching stellte sein neues Buch "Hausers Ausflug" im Kultur: Haus Dacheröden vor. (Foto: Uwe-Jens Igel)
Novelle oder Roman? Steffen Mensching stellte sein neues Buch "Hausers Ausflug" im Kultur: Haus Dacheröden vor. (Foto: Uwe-Jens Igel)

Von Sigurd Schwager

Der Saal im Hause Dacheröden, dem Stammsitz der Erfurter Herbstlese, füllt sich schon lange vor Beginn der Veranstaltung mit erwartungsfrohem Publikum. Steffen Mensching kommt. Für ihn ist am Herbstlese-Stammtisch immer wieder gern ein Platz reserviert.

Hier hat er 2015 bei Hugendubel das Münchner Revolutionstagebuch von Victor Klemperer kundig präsentiert, 2017 in der Oper mit Thea Dorn und Christoph Stölzl klug über das Deutschsein nachgedacht und 2019 im Schauspielhaus mit Robert Habeck schwungvoll das politisch-literarische Wort gewechselt.

Und schon gar nicht in Vergessenheit gerät der Herbstlese-Auftritt 2018 mit seinem bitteren Schelmenroman „Schermanns Augen“. Die Frucht von einem Dutzend Schreibjahren wird zum Lese-Ereignis. 820 Seiten große Literatur. Dichterkollege Christoph Hein bezeichnet das Buch als einen Jahrhundertroman und merkt voller Bewunderung an, dass alle Preise der Welt diesem Autor gebühren. Zugleich rätselt damals auch der bühnenerfahrene Hein, wie Mensching es eigentlich fertigbringe, seinen beträchtlichen Verpflichtungen als Rudolstädter Theaterintendant außerordentlich erfolgreich gerecht zu werden - und zugleich solch ein gewaltiges Werk zu verfassen.

Vier Jahre nach „Schermanns Augen“ und mit einer seither um vier Literaturpreise erweiterten Schriftsteller-Vita stellt Steffen Mensching nun im Herbst 2022, die Frankfurter Messe naht, sein neues Buch in Erfurt vor: „Hausers Ausflug“.

Im Vergleich zum Vorgänger darf man den neuen Mensching das Gegenteil von einem Wälzer nennen. Für den Verlag sind die schmalen 249 Seiten dennoch ein klarer Fall von einem Roman. Der Autor selbst wird später am Abend anmerken, dass er eher dazu neige, von einer Novelle zu sprechen. Doch zunächst bedankt er sich für den freundlichen Empfang, blickt auf sein Buch und sagt, dass er daran knapp drei Jahre, vom Sommer 2019 bis zum Frühjahr 2022, gearbeitet habe. Zumindest für ihn als Autor sei der Corona-Lockdown eine produktive Zeit gewesen. „Es war nicht alles schlecht“, lächelt er mild.

Die Geschichte, die Mensching erzählt, handelt in naher Zukunft, am Ende des Jahrzehnts. David Hauser, die Hauptfigur, ist Geschäftsführer einer Firma, die Rückführungsboxen herstellt, in denen abgelehnte Asylbewerber per Flugzeug über ihren Herkunftsregionen abgeworfen werden. Dieser skrupellose deutsche Geschäftsmann, so die Ausgangssituation, steckt plötzlich selbst in einer seiner Boxen, findet sich mit syrischem Pass im Niemandsland wieder, muss um sein Leben kämpfen.

Bevor Steffen Mensching das erste Kapitel und eine Stunde lang noch viel mehr liest, trägt er zwei berühmte Sätze von Franz Kafka vor, die den Ton für das Buch angeben: „Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.“

Wie er auf die Idee für das Buch gekommen sei, wird der Autor in Erfurt gefragt. Mensching berichtet von einem Flug im Sommer 2019 von Wien nach Tirana. Neben ihm habe ein sehr schweigsamer, abwesend wirkender Passagier gesessen, der bei der Ankunft auf dem Rollfeld von der Polizei abgeführt wurde. Eine irritierende Situation: Die einen fahren in den Urlaub, die anderen ins Gefängnis. Schon lange, sagt Mensching, habe ihn beschäftigt, dass Sicherheit eine Illusion ist, sich unser Leben von einer Sekunde auf die andere völlig wandeln kann.

Eine andere Publikumsfrage zum Buch lautet: Phantasie oder Wirklichkeit? „Ich wollte“, antwortet Mensching, „eine Mischung aus Phantastischem und ziemlich Realem.“ Er sagt aber auch, was er nicht wollte: das große Gesellschaftsbild des Jahres 2029 zeichnen.

Von „dystopischer Satire mit ziemlich aktuellem Hintergrund“ liest man in einer der vielen meist freundlichen, nie euphorischen Kritiken von „Hausers Ausflug“. Steffen Mensching, schreibt eine Rezensentin, „bleibt angesichts des großen Themas Flucht und Verantwortung auffällig ungenau im politischen Detail, aber das ist offenbar so beabsichtigt. Er argumentiert nicht moralisch, er schreibt sogar mit sparsam gesetzter Ironie und setzt vor allem auf die Wirkung im Kopf des Lesers. Dort sammeln sich Fragen weit über die Handlung hinaus.“

Viele Fragen hat auch das dem Autor aus seinen Buch- und Theatererfahrungen sehr gewogene Herbstlese-Publikum. Während er mit seinen Antworten viel Stoff für das Nachdenken liefert, blättert Bühnenprofi Mensching emsig in seinem Buch, um endlich zu jener Seite zu gelangen, auf der sogar Erfurt vorkommt. Die Stelle wolle er, wenn der Saal das möge, gerne noch vorlesen.

Gesagt, getan. Darin geht dann die Rede vom eifernden hessischen Oberlehrer, der Hauser ob seines Drohnenprojektes sofort einen Mitgliedsantrag schicken würde. Und wir vernehmen als Nachricht aus der Zukunft, dass noch immer niemand mit den Faschisten aus Erfurt regieren will.

Doppelbödiges Finale eines Abends, an dessen Ende Steffen Mensching für Buch, Lesung und Gespräch mit starkem Beifall gefeiert wird.

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