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Erfurter Herbstlese
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Okt. 26 2017

„Zeit“-Literaturchef Ijoma Mangold stellt sein Buch-Debüt „Das deutsche Krokodil. Meine Geschichte“ bei Hugendubel vor

Sehnsucht nach Normalität

Zum Abend mit Ijoma Mangold hatten die Erfurter Herbstlese und das Katholische Forum im Land Thüringen - die Akademie des Bistums Erfurt - gemeinsam in die Buchhandlung Hugendubel eingeladen.
Zum Abend mit Ijoma Mangold hatten die Erfurter Herbstlese und das Katholische Forum im Land Thüringen - die Akademie des Bistums Erfurt - gemeinsam in die Buchhandlung Hugendubel eingeladen.

Von Sigurd Schwager

Auch die Bücherzeiten haben sich geändert. Längst gibt es nicht nur berühmte Dichter, sondern auch berühmte Literaturkritiker. Manche von ihnen sind durch ihre mediale Präsenz noch weitaus bekannter als jene Damen und Herren, über deren Werke sie sich öffentlich äußern. Zudem fühlen sich (fast) alle prominenten Kritiker irgendwann berufen, selbst Bücher zu verfassen. Diese landen dann mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Bestsellerlisten, und der Leser stellt fest, dass der Kritiker oft nicht schlechter schreiben kann als der gewöhnliche Dichter, manchmal sogar die besseren Dichter ist.

Nun also hat der nächste prominente Kritiker sein literarisches Debüt vorgelegt: Ijoma Mangold, der fernsehbekannte Literaturchef der renommierten „Zeit“. Er kommt mit viel Vorschusslorbeer zur Erfurter Herbstlese. Sein Buch „Das deutsche Krokodil. Meine Geschichte“ sei viel mehr als eine persönliche Geschichte, schreibt die Süddeutsche Zeitung über ihren einstigen Feuilletonkollegen. „Es ist zugleich ein Gesellschafts- und Epochenporträt en miniature.“ Auch andere Rezensenten von FAZ bis TAZ zeigen sich schwer beeindruckt. Kritikerprimus Dennis Scheck lobt in der Sendung „lesenswert" im SWR-Fernsehen den zum dortigen Literatur-Quartett gehörenden Ijoma Mangold so enthusiastisch, dass dieser sehr verlegen dreinschaut.

Aber auch hier ist noch eine Steigerung möglich. Denn im NDR vernehmen wir Sätze wie diese: „Klar ist nach seinem literarischen Debüt: Ijoma Mangold muss unbedingt noch ein Buch schreiben und noch eins und immer noch mehr. Allzu viele Sabbaticals sieht das Arbeitsrecht aber nicht vor. Darum ergeht die dringende Aufforderung an ‚Die Zeit‘, ihren Literaturchef fristlos zu entlassen.“

Der so gefeierte Autor, Jahrgang 1971, erzählt in der Buchhandlung Hugendubel, die trotz Spitzenfußballs im Fernsehen gut gefüllt ist, dem neugierigen Publikum zum besseren Verständnis Biografisches, gewissermaßen eine Langfassung des Klappentextes vom Buch, der so geht: „Ijoma Alexander Mangold lautet sein vollständiger Name; er hat dunkle Haut, dunkle Locken. In den siebziger Jahren wächst er in Heidelberg auf. Seine Mutter stammt aus Schlesien, sein Vater ist aus Nigeria nach Deutschland gekommen, um sich zum Facharzt für Kinderchirurgie ausbilden zu lassen. Weil es so verabredet war, geht er nach kurzer Zeit nach Afrika zurück und gründet dort eine neue Familie. Erst zweiundzwanzig Jahre später meldet er sich wieder und bringt Unruhe in die Verhältnisse.

Der Literaturkritiker Ijoma Mangold erinnert sich an seine Kindheits- und Jugendjahre. Wie wuchs man als ‚Mischlingskind‘ und ‚Mulatte‘ in der Bundesrepublik auf? Wie geht man um mit einem abwesenden Vater? Wie verhalten sich Rasse und Klasse zueinander? Und womit fällt man in Deutschland mehr aus dem Rahmen, mit einer dunklen Haut oder mit einer Leidenschaft für Thomas Mann und Richard Wagner?“

Ungewohnt sei das für ihn, sagt der Journalist Mangold in Erfurt. Er müsse nicht nur die Fragen stellen, sondern auch gleich die Antworten liefern. Er moderiere sich also selber. Sein Buch sei ein Mamabuch geworden, aber auch ein Vaterbuch, eine Geschichte der Verfehlungen. Auch ein Schulroman stecke in dem Buch. Später wird er vom Tod seiner Eltern erzählen. Die Mutter starb 2010, der Vater 2011. Als Familie sind ihm die nigerianischen Schwestern und Yvonne, die afroamerikanische Freundin der Mutter, geblieben.

Die Lesung beginnt mit dem ersten Buch-Kapitel „Der Junge“. Dieser Junge, das ist ein Kind mit starker Normalitätssehnsucht. Immer wenn er das Telefon abnimmt, nennt er seinen ganzen Namen. Der Druck, das spürt er, sich zu seinem afrikanischen Vornamen zu bekennen, ist groß.

Er wird nicht rassistisch angefeindet, im Gegenteil. Seine Erfahrung: „Solange man das Thema Herkunft und Afrika nicht selber anspricht, solange spielt es auch keine Rolle. Es kommt nicht wie eine Heimsuchung über einen . . . allenfalls interessieren sich die Leute für sein krauses Haar."

Aber es gibt ein Zeichen: das den Titel stiftende Krokodil. Ijoma Mangold liest dazu eine Passage: „Auf dem Fenstersims im Wohnzimmer steht ein Krokodil, das der Junge dort lieber nicht sähe. Aus Ebenholz . . . Als wäre es seine Pflicht, jeden daran zu erinnern, dass dieser Haushalt eine besondere Verbindung zu Afrika pflegt.“ Obendrein ist das Krokodil auch noch schwarz. „Statt einer weißen Marmorbüste eine schwarze Holzskulptur. Damit auch noch der letzte Depp mit der Nase darauf gestoßen wird.“

So wie Mangold schreibt, ist er auch auf dem Podium zu erleben; ein kluger, nachdenklicher, freundlicher Mann der eher leisen, oft heiteren Töne. Und sehr angenehm in heutiger Zeit, frei von eitler Selbstbespiegelung. Enttäuscht wird nur der, der eine Art Opfergeschichte erwartet. Diese findet nicht statt, weil es sie nicht gab. Beim Lesen oder Zuhören kann man sich gut vorstellen, dass diese Kindheit in der Provinz zauberhafter Stoff für einen poetischen Film wäre.

„Ich bin eigentlich ein angenehmes freundliches Temperament, das aber in literarischen Fragen auch zu scharfen Aussagen neigen kann.“ Mangolds Selbsteinschätzung findet ihre Entsprechung auch im „deutschen Krokodil“.

Er liest, wie er zu Akif Pirinçci Buch „Deutschland von Sinnen“, erschienen 2014, einen scharfen Verriss schrieb. Es schäumte daraufhin im Netz: „linksversiffter“ Journalist. Man müsse sich nicht wundern, dass der „Halbneger“ und „Dunkeldeutsche“ so schreibe. Und Pirinçci empfahl, Mangold solle doch nach Afrika zurückgehen, in den Busch. „Da dachte ich mir“, liest Ijoma Mangold weiter: „Das wird all den Freunden gefallen, die schon immer der Meinung waren, ich sähe die Welt zu rosig. Wie singt Hans Sachs in den ‚Meistersingern‘? ‚Wer sagt den Namen an? ‘s ist halt der alte Wahn‘".

Mit diesem Zitat endet die Lesung, aber nicht die Veranstaltung. Zeit für Zuhörer-Fragen. Sie gelten der Herkunft seines Namens, den er als „Glücksfall“ deutet, seinem heutigen Interesse an Afrika, dem literarischen Quartett. Wie er sich verändert habe, will jemand wissen. Die Antwort, sagt Mangold, sei das Buch.

Und natürlich interessiert alle im Raum, die das wunderbare Buch gelesen haben, ob er denn seine Dichter-Karriere fortzusetzen gedenke. Der literarische Debütant freut sich über die Frage, gesteht aber, dass er das Fiktionale noch scheue. „Ich habe leider noch keine neue Idee.“

Irgendwie klingt es wie ein halbes Ja. Im langen Beifall des Erfurter Publikums klingt Hoffnung und Erwartung mit.

Ijoma Mangold bei Hugendubel

Fotos: Holger John

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