Nele Neuhaus im Atrium der Stadtwerke
Trügerische Idylle

Wenn man auf der Autobahn 5 in Richtung Frankfurt fährt, liegt kurz vor dem Nordwestkreuz die Raststätte Taunusblick am Wegesrand. Wer hier einen Kaffee trinkt, schaut hinaus auf hochkriminelle Landschaften. Zumindest literarische. Eschborn und Schwalbach sind nicht einfach zwei Orte, hier sind die fiktiven Ermittler Pia Kirchhoff und ihr Chef, Oliver von Bodenstein, unterwegs. Bereits in sieben Büchern gehen sie auf Verbrecherjagd. Was für ein Glück, denn Mord und Totschlag sind nur ausgedacht.
Glaubten alle, die in der Idylle zu Hause sind. Bis im September die „Taunus Zeitung“ titelte: „Horrorfund in Schwalbach“. Beim Entrümpeln einer Garage machten die Angehörigen des wenige Tage zuvor verstorbenen Besitzers einen gruseligen Fund. In einem Plastefass stießen sie auf bereits stark verweste Leichenteile, im zweiten Fass lagen dazu passend Körper und Kopf. Die Zeitung zitierte darauf einen Anwohner in ihrem Bericht: „Besser kann es Nele Neuhaus nicht schreiben“, sagte der.
Kann sie doch – sagt die Autorin selbst. Sie steht im Atrium der Stadtwerke, es beginnt der zweite Teil ihrer Lesung. Die Pause war notwendig, denn Nele Neuhaus hat ein Handicap. Vom vielen Signieren ihres jüngsten Bestsellers hat sie sich eine entzündete Sehnenscheide eingefangen, nun muss sie die verbliebene Unterschreibkraft klug einteilen. Bereits vor Beginn des Abends hat sie angefangen, die ersten Bücher zu signieren, in der Pause war der zweite Stoß dran und später, wenn der Abschiedsapplaus verklungen sein wird, wird sie sich noch einmal daranmachen.
Jetzt aber ist erst einmal Zeit für ihr Kriminalisten-Duo. Zwischen einzelnen Passagen ihres Buches erzählt sie, wie sie zum Schreiben kam, wie sie sich organisiert und wer ihre Probeleser sind. Routine ist das inzwischen. Am Anfang ihrer Karriere sah das anders aus. Mehrere Jahre hat sie für ihren ersten Thriller recherchiert, sich in die Welt der New Yorker Investment-Banker und ihrer Computertechnik eingelesen. Am Ende brachte es die Urfassung von „Unter Haien“ auf über tausend Seiten. „Kein Verlag wollte das drucken“, erzählt sie dem Erfurter Publikum.
Hilfe kam aus der Familie. Ihre kleinere Schwester nahm sich den Wälzer vor und dampfte ihn ein. Nele, du musst die Handlung immer vorantreiben, habe sie dann noch gesagt. Ein Ratschlag, den Frau Neuhaus erst akzeptierte, und dann zu ihrer Schreibmaxime machte. „Nur Sekundenbruchteile später ließ die Remington Core-Lokt ihren Schädel platzen. Sie sackte lautlos zusammen. Volltreffer.“ Wir sind auf Seite 6 von „Die Lebenden und die Toten“. Für den Anfang ist das wohl Handlung genug.
Es bleibt nicht bei der einen Toten. Doch bevor die Ermittler (im Buch) zum nächsten Tatort gerufen werden, plaudert Nele Neuhaus ein wenig mit dem Publikum. Dann wieder eine Leseprobe, und noch ein paar Hinweise auf die echte Welt der Autorin. So erfahren die Zuhörer, welche fast kriminelle Energie Nele Neuhaus an den Tag legt, um falsche Fährten zu legen. Welche diebische Freude sie erfüllte, als ihre Schwester, die größere dieses Mal, nach 40 Seiten bemängelte, sie kenne den Täter schon – weil sie völlig daneben lag. Oder wie es ist, auf Details in der Fiktion zu achten, denn die Leser vor Ort, im Taunus, die kennen sich aus.
Es ist ein kurzweiliger Abend, bei dem, all den gruseligen Dingen im Text zum Trotze, entspannte Heiterkeit herrscht. So freundlich, wie Nele Neuhaus ihre Gäste begrüßt hatte, so liebenswert entlässt sie ihr Publikum in die nebelige Nacht. Viele haben ein Buch von ihr in der Tasche, signiert, ungeachtet der blöden Sehnenscheide.
Nele Neuhaus im Atrium der Stadtwerke
Fotos: Holger John