Von Waisen und Wundern

Wer als Junge im Waisenhaus seine kranke Schwester besuchen will und dabei erwischt wird, muss mit zehn Rutenhieben auf den Rücken und einem Tag ohne Essen im dunklen Keller rechnen, so das Reglement des Waisenhauses in Potsdam, das Friedrich der Große für die Kinder seiner Soldaten errichten ließ. Eine vorbildliche Einrichtung, möchte man meinen.
Doch wer den Roman „Diebstahl im Waisenhaus“ von Caroline Flüh liest, kommt ins Grübeln. Es gibt Schlimmeres, gewiss, vor allem 1745 zu Zeiten der Schlesischen Kriege. Aber der Blick hinter die Kulissen ist doch aufschlussreich. Flüh möchte in ihrem Roman Geschichte für junge Leser erlebbar machen. Aber wie macht man das, ohne einfach einen historischen Roman zu schreiben?
Zunächst scheint alles wie immer. Emma und Leonie machen für die freundliche Madame R. den Wocheneinkauf, danach ist Zeit zum Plaudern. Die Dame hat viele interessante Bilder in ihrer Wohnung und kann wunderbar erzählen, was Emma und Leonie fasziniert. Unter den Bildern befinden sich auch Zeichnungen von Chodowiecki, der arme Kinder auf Papier festgehalten hat. Und so kommen sie über die Armut der Straßenkinder über das Militärwaisenhaus von Potsdam miteinander ins Gespräch, wo in schlimmsten Zeiten bis zu 2000 Kinder untergebracht waren, die sich zu fünft ein Bett teilen mussten. Und dann ist da noch ein Ring der Großmutter von Madame R., den die Kinder vom Juwelier abgeholt haben. Emma zieht ihn spaßeshalber an und lauscht fasziniert den Erzählungen der alten Dame.
Da passiert es: Beim Reden über alte Zeiten finden sich die beiden Mädchen auf einmal im 18. Jahrhundert im Potsdamer Militärwaisenhaus wieder. Dort lernen sie Johann und Georg kennen. Die beiden Freunde schützen die ungewöhnlichen Besucherinnen und zeigen ihnen das Leben im Waisenhaus: die karge Versorgung, den Unterricht mit den unbarmherzigen Strafen, die harte Arbeit in der Gewehrmanufaktur, die Krankenstube. Dabei kommen Emma und Leonie dem Rätsel ihrer Zeitreise auf die Spur. Sie verfügen über besondere Kräfte. Die zwei Mädchen und die zwei Jungs beschließen, Johanns schwerkranker Schwester Wilhelmine zu helfen; es gilt, eine lebensrettende Medizin zu besorgen. Es ist ein Unterfangen, das Gefahren birgt und manch schwierige Entscheidung verlangt.
Caroline Flüh und Hans-Jochen Röhrig, lange Jahre Ensemblemitglied am Hans Otto Theater in Potsdam, haben am Samstagnachmittag bei der „Herbstlese“ mit einer szenischen Lesung diese Geschichte lebendig werden lassen und die 7- bis 12 Jährigen fast 90 Minuten lang in Bann gehalten.
Caroline Flüh hat einfühlsam erzählt, Hans-Jochen Röhrig stimmgewaltig aus dem Buch vorgelesen und vor allem am Ende der Lesung mit seinem großartigen Auftritt im historischen Kostüm als gestrenger Waisenhaus-Lehrer überzeugt, der die modernen und so seltsam gekleideten Kinder examinierte. Für Alt und Jung ein großer, lehrreicher Spaß bei dem die anwesenden Kinder mit klugen Antworten überzeugen konnten!
Der Autorin ist ein ungewöhnlicher aber wunderbarer Roman gelungen, der die weniger beleuchtete Seite der Zeit Friedrichs des Großen für junge Leserinnen und Leser verständlich und erlebbar werden lässt.