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Erfurter Herbstlese
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April 22 2023

Christoph Hein stellt seinen taufrischen Roman „Unterm Staub der Zeit“ vor

Wiedersehen in Erfurt

Wiedersehen macht Freude: Christoph Hein im Kultur: Haus Dacheröden.
Wiedersehen macht Freude: Christoph Hein im Kultur: Haus Dacheröden.

Von Sigurd Schwager

Der Applaus, der den Mann empfängt, ist beträchtlich und einer voller Wiedersehensfreude. Beileibe nicht zum ersten Mal heiße man ihn hier willkommen, sagt Programmchefin Monika Rettig. Von allem Anfang an und später in schöner Regelmäßigkeit hat dieser gewichtige Autor die Herbstlese und ihren Frühlingsableger mit seiner Anwesenheit nobilitiert.

Jetzt, dreizehn Tage nach seinem 79. Geburtstag und vier Tage nach dem Erscheinen seines neuen Romans „Unterm Staub der Zeit“, gibt es eine Fortsetzung in Erfurt. Und natürlich bleibt aus diesem Anlass im Haus Dacheröden kein Platz frei.

Wer dem hochgeschätzten Hein lesend über Jahrzehnte die Treue gehalten hat, und das sind wohl die meisten im Saal, der dürfte sich im Frühling 2023 erinnert fühlen an den Herbst 1997 und Heins Buch „Von allem Anfang an“. Darin erzählt der Autor episodenhaft von einer Kindheit in der DDR-Provinz, die seiner eigenen Mitte der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sehr ähnelt.  Heute kaum zu glauben, aber wahr: Wie sein Roman-Held Daniel ist Christoph Hein ein Pfarrer-Sohn, dem der Zugang zur Erweiterten Oberschule verwehrt wird, und wie Daniel führt ihn der Weg zum Abitur deshalb in die Ostklasse eines Westberliner Gymnasiums.

Zu jener Buch-Randnotiz von 1997 reicht der Autor nun die ganze Geschichte nach. Beginnend 1958 und aufgeschrieben als Roman. Frank Quilitzsch, der als kundiger, lässiger Moderator seinen Teil zum erkenntnisreichen Gelingen des Abends beiträgt, stellt sogleich die naheliegende Frage: Könnte Daniel nicht auch Christoph heißen? Die Antwort folgt schnell, knapp und klar: „Nein!“ Es handele sich um keine Autobiografie, das Hinzufantasieren sei erlaubt und erwünscht.

Warum er noch keine Autobiografie geschrieben habe, möchte der Moderator wissen. „Sie steht in meinen Romanen“, sagt Hein und lächelt. Eigentlich komme er doch in jedem seiner Bücher vor. Aber ob er denn seiner Erinnerung wirklich trauen könne, hakt Quilitzsch nach. Sie entstehe, antwortet Hein, wenn er sich damit beschäftige, was manchmal Monate dauere. Und ja, er traue seinen Erinnerungen. Man könne sie durchaus vielfältig überprüfen.

Dann liest der Frühlingsleser den Anfang seines neuen Buches, die ersten Sätze und Absätze: „Ende August, am letzten Sonnabend des Monats, brachte Vater mich nach Berlin ... ich solle so viel wie möglich mitnehmen, um anständig gekleidet zu sein ... Anständig - das war eins der wichtigsten Worte meiner Kindheit, meine Geschwister und ich bekamen nahezu täglich zu hören, wir sollten anständig sein und höflich. Wir hatten uns anständig aufzuführen, mussten anständig gekleidet sein und uns in der Öffentlichkeit und gegenüber Erwachsenen anständig verhalten. Es gab feste Regeln beim Grüßen der Bekannten und unumstößliche Festlegungen für unseren Haarschnitt. Die Eltern ermahnten uns, uns nicht ‚wie die Zigeuner‘ aufzuführen und nicht ‚wie die Hottentotten‘ herumzulaufen ... Und in Westberlin sollte ich mich besonders anständig verhalten.“

Natürlich weiß der ebenso elegante wie geschliffene Erzähler Christoph Hein, der vielen als meisterhafter Chronist deutsch-deutscher-Verhältnisse gilt, auch um die Wucht der aktuellen Debatten. Wie erwartet lässt er an diesem Abend keinen Zweifel daran, was er von Verboten und Zensur in der Kunst hält: nichts. Und er befindet sich damit in Übereinstimmung mit seinem Erfurter Publikum.

Selbiges erlebt übrigens eine Veranstaltung, die von erstaunlich heiterer Stimmung getragen wird. Vermutlich geht es manchen im Raum wie dem Moderator, der sich bei den Beschreibungen des Schulalltags von DDR-Jugendlichen in Westberlin an die Feuerzangenbowle erinnert fühlt. Das wiederum bestreitet Hein dann doch energisch.

Christoph/Daniel hätten damals einen Vorgeschmack von dem bekommen, was vier Jahrzehnte später der Rest der DDR-Bevölkerung erlebte. Und heute? Es werde wohl noch dauern mit der Einheit. Ein gewisser Mathias D., denkt nicht nur der Berichterstatter, hat uns das gerade wieder vor Augen geführt.

Als Finale  des Abends liest Hein das Finale seines gar nicht angestaubten Buches. Daniel hat ein Mädchen kennengelernt, Christiane: „Und damit begann eine andere Geschichte. Eine ganz andere Geschichte. Finis.“

Ob Christoph Hein an einer Liebesgeschichte schreibe, fragt Frank Quilitzsch. Die Antwort ist ein ja, aber. Zurzeit arbeite er an einem umfangreichen Roman, der ihn wohl noch zwei Jahre beschäftigen werde. Danach? Vielleicht! Mindestens bis zu seinem 95. Geburtstag habe er ausgesorgt mit neuen Romanstoffen.

Im langen herzlichen Applaus klingt Hoffnung mit auf das eine oder andere Wiedersehen in Erfurt.
 

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