Erfurter Herbstlese: Couch-Surfing in der Ukraine und der Beginn eines langen Abschieds
Auftakt-Runde zu Herbstlese 2024 umgarnt mit Vorgeschmack auf Bücherfest in den kommenden Wochen die immer noch Lesenden.
Bei der traditionellen Auftaktrunde zum alljährlichen Büchermarathon, genannt Erfurter Herbstlese, berichtet Gastgeber, Theologe und Schriftsteller Felix Leibrock über regelmäßige Gespräche mit jungen Polizeianwärterinnen und -anwärtern in seiner bayerischen Wahlheimat. Auf die Standardfrage, wer von den Mitzwanzigern noch Bücher lese, ernte er gewöhnlich nur Unverständnis. Dafür gebe es heute doch Handys. Nur selten traue sich mal eine den Finger zu heben, und ja, es sei meist eine Frau.
So war denn dieser Abend im Erfurter Haus Dacheröden auch eine fortwährende Scharmoffensive mit vielen Komplimenten und Huldigungen in Richtung Publikum, auf dass es die Lese- und Bücherlust weiter hochhalten möge. Bei rund 50 vielfach hochkarätigen Autorenbegegnungen soll dafür in den kommenden Wochen ausreichend Gelegenheit sein.
Beim Literarischen Quartett abgeguckt
Den Start in den Thüringer Literaturherbst mit dem Leibrock-Vierer gibt es so jetzt seit 22 Jahren. Abgeguckt hat man sich das Format einst beim berühmt-berüchtigten Literarischen Quartett um den unvergessen Marcel Reich-Ranicki (1920-2013), in der Erfurter Variante allerdings ganz ohne schnarrende Besserwisserei und Bevormundung.
Geätzt und gestichelt wird in der seit Jahren festgesetzten Runde allenfalls verhalten. Leibrocks Gäste waren auch in diesem Jahr wieder Theater-Intendantin Ute Lemm, Ex-MDR-Programmer Matthias Gehler und Herbstlese-Chef Dirk Löhr.
Als eine Art kleine Herbstlese in der großen Herbstlese ist „Leibrock und Gäste“ auch ein Vorgeschmack auf das Programm der kommenden Woche. Vier Diskutanten sprechen über vier Bücher aus dem aktuellen Programm. Über die Kriterien für die Auswahl schweigt man sich in der Regel aus.
Schreiben als Kunsthandwerk
Immerhin war mit Iris Wolffs „Lichtungen“ (Klett-Cotta) ein Titel dabei, der es gerade auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2024 geschafft und zudem den Uwe-Johnson-Literaturpreis bekommen hat. Viel mehr einhelliges Lob von allen wäre kaum möglich gewesen. Für Lemm war es das schönste Buch des Abends. Leibrock erinnerte es an die Sprachgewalt von Herta Müller, Gehler sprach von einem Stück richtig guter Literatur. Da sei nicht unerwähnt, dass es für die Lesung mit der aus Siebenbürgen stammenden Autorin am 28. November in der Erfurter Buchhandlung Hugendubel derzeit noch Karten gibt.
Überwiegend gute Noten erhielt auch ein neuer Erzählband von Saša Stanišić, nicht zuletzt wegen des wohl ungewöhnlichen Titels „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ (Luchterhand, Lesung am 19.11.2024, Restkarten). Felix Leibrock vermisste zwar bei den Versuchen, erzählend Zukunft auszuprobieren, ein wenig den roten Faden, bescheinigte dem gebürtigen Bosnier, der in den frühen 1990ern als 8-Jähriger nach Deutschland kam, ein feinstes Deutsch. Laut Dirk Löhr macht der Buchpreisgewinner von 2019 Schreiben zum Kunsthandwerk.
Zwei Sachbücher kamen ebenfalls gut weg. Leonie Schöler schreibt in „Beklaute Frauen“ (Penguin, Lesung am 15. 11. ausverkauft) über historische Frauen, deren Leistungen unanerkannt blieben. Eine junge Autorin mit wichtiger Botschaft, so die Runde, die der 31-Jährigen TikTokerin deshalb auch gern exzessives Gendern und gelegentliches Eifern nachsah.
Langjährige Programmchefin scheidet aus
Eine klare Empfehlung gab es auch für Sascha Orths „Couchsurfing in der Ukraine – meine Reise durch ein Land im Krieg“ (Malik, Lesung am 21. 11. ausverkauft). Gelobt wurde es als allgemeingültiges Buch über Krieg und Frieden und die Einzelschicksale hinter den täglichen Nachrichten von Zerstörung und Tod.
Und natürlich konnte nicht unerwähnt bleiben, dass die Herbstlese vor einschneidenden Veränderungen steht. Grund ist das angekündigte Ausscheiden der langjährigen Programmchefin Monika Rettig im kommenden Jahr. Seit mehr als 12 Jahren prägt sie das Programm. Noch bleiben einige Monate. Die Tränen, die bereits an diesem Abend mit dem beginnenden Abschied flossen, waren wohl noch nicht die letzten.
Text: Hanno Müller
Fotos: Uwe-Jens Igel