Hape Kerkeling: Gebt mir etwas Zeit

Rückblick
today Donnerstag, 31.10.2024
location_on Theater Erfurt (Großes Haus)
Der Meisterunterhalter, der das Lachen und seine Ahnen liebt, stellt sein neues Buch zur Herbstlese vor

Große Oper in Erfurt. Große Komische Oper. Hape Kerkeling kommt - und jedermann wie jedefrau erwartet sich ein Fest. Da kann auch der Herbstlese-Berichterstatter die Tinte, pardon: die Tasten, nicht halten:

"Der lebensfreundliche, nicht mehr ganz junge und in jeder Beziehung nicht leichtgewichtige Mann sprengt an diesem Abend alle Grenzen. Zum einen die Grenzen des Raumes, denn der große Saal des Erfurter Theaters hätte mehrfach bis auf den letzten Notsitz gefüllt werden können. So muss das Studio des Hauses mit seinen Plätzen und einer Leinwand herhalten, um Fans des Mannes die digitale Teilhabe an der Veranstaltung zu ermöglichen. Zum anderen sprengt der Auftritt die Grenzen der sich üblicherweise einstellenden Begeisterung des Herbstlese-Publikums. 900 Menschen zelebrieren so etwas wie eine kultivierte Beifall-Ekstase. Inklusive der Damen und Herren in der economy class, im Studio, die der berühmte Gast zu Beginn höchstpersönlich besucht und herzlich begrüßt."
Selbige Zeilen zitieren den 29. Oktober 2015 und gelten dem Verfasser als Herbstlese-Stehsatz, zuletzt tauglich für den Erfurter Katzenpfoten-Auftritt 2021 und nun für den Oktober-Ultimo 2024 in der erneut ausverkauften Oper. Wieder geradewegs aus dem Studio auf die Bühne eilend, steht Hape Kerkeling an der Rampe und genießt den jubelnden Empfang. "Ist das schön! Vielen Dank, meine Damen und Herren!" Halloween in Erfurt, das finde er spooky, sagt er. Umso mehr erfreue ihn die völlige Abwesenheit befürchteter Höcke-Masken.

Der Ton für die folgenden 90 Minuten ist damit gesetzt. In deren Verlauf darf sich dann auch die versammelte Gemeinde von des Künstlers Verneigung angesprochen fühlen: "Das Schönste ist, dass das Publikum mir seit 40 Jahren die Treue hält." Total normal findet das der Saal und dankt applaudierend zurück.
Die Gründe beständiger Hape-Treue sind so vielseitig wie die Begabungen des Fernseh-, Film und Auflagenstars. Denn dieser Hans-Peter Wilhelm Kerkeling aus Recklinghausen ist - Hurz! - ein wahres Talente-Monster. Seine mannigfaltige Könnerschaft vermag selbst die eigene Website mit ihren acht Berufsbildern bestenfalls anzudeuten: "Comedian, Moderator, Entertainer, Schauspieler, Sänger, Autor, Parodist und Kabarettist in einer Person".
Den Frühaufsteher unter den Bühnen-Eroberern personifiziert er natürlich auch. Mit 17 gibt Hape "Ich bin dann mal da" Kerkeling seinen Bildschirm-Einstand in Bill Ramseys Talentschuppen. Mit 18 gewinnt er seinen ersten Preis, das kabarettistische Passauer Scharfrichterbeil. Mit 20 bekommt seine erste große Fernsehshow im Hauptabendprogramm der ARD. Die Kamera liebt diesen Show-Azubi, seine Sendung Känguru, ein Mix aus Pop und Ulk, gefällt und wird 1985 sein TV-Durchbruch.
Jener Zeit hat Kerkeling in seinem aktuellen Bestseller "Gebt mir etwas Zeit" ein Kapitel gewidmet, aus welchem er in Erfurt unter anderem liest. Man hört vergnügt zu und stellt sich vor, wie da ein 20jähriges "dummes, aufgeregtes Hähnchen" im WDR-Sendesaal sitzt, neben ihm rechts Willy Millowitsch und links Rudi Carrell, der ihm amüsiert zuflüstert: "So wie du kann man es natürlich auch machen. Du steigst einfach von oben ein. Andere arbeiten sich mühsam hoch, aber du sitzt schon nach deiner ersten Show zwischen den ganz Großen."

Hape Kerkeling verknüpft die geschilderte Situation mit einem Satz seines Lieblingsphilosophen Spinoza aus seiner Lieblingsstadt Amsterdam: "Sein, was wir sind, und werden, was wir werden können, das ist das Ziel des Lebens." Wie der Versuch, sich daran zu halten, mit den damaligen Verhältnissen kollidiert, schildert er im Buch und auf der Erfurter Bühne. Hinter den Kulissen sorgt der junge Mann, weil schwul, für manche Diskussion. Ebenso dringend wie erfolglos wird ihm empfohlen, eine Scheinbeziehung mit einer Frau einzugehen.

Nach zwei Jahren Showbusiness, die "eigentlich mehr Horrortrip als Glamour" sind, setzt ihn der Sender sang- und klanglos vor die Tür . Ernsthaft habe er sich gefragt, ob er mit 22 Jahren vor dem frühzeitigen Aus der so heiß ersehnten Karriere stehe. Und dann? "Vielleicht", sinniert der Jungstar, "sollte ich besser den Job wechseln? Wie wäre es mit Dolmetscher oder irgendwas mit Herrenkonfektion?"
Zum Glück findet der Berufswechsel nicht statt. Irgendwas mit Erfolg war dann doch (fast) immer. Mit seinem neuen Buch erweitert Hape Kerkeling noch einmal sein Talentespektrum, denn er tritt darin als kundiger Ahnenforscher in eigener Sache auf. Während der Coronapandemie rettet er sich nämlich in die Geschichte seiner Vorfahren, die ihn von jeher begeistert und mit der er sich nun im Lockdown intensiv beschäftigen kann Er nutzt die moderne Alchemie, macht einen Gentest, dessen Ergebnisse mit internationalen Datenbanken abgeglichen werden, taucht ab in viele alte Quellen, reist zurück bis ins 12. Jahrhundert zur seefesten Gerborg Silkentopp.

"Genetisch bin ich hauptsächlich Holländer", bilanziert er. Das entscheidende Puzzleteil seiner Genetik stamme von der Amstel. "Nichts ist in meinen Genen und vielleicht auch in meiner Seele so stark verankert wie Amsterdam. Mit dieser Stadt bin ich schicksalhaft verbunden." Auch durch Duncan, den frühen Gefährten und Geliebten, der an Aids stirbt. Die Erinnerungen an ihn gehören zum Anrührendsten des Buches.
Die spektakulärste Geschichte wiederum betrifft die geliebte Oma Bertha und ihr größtes Geheimnis, das sie mit ins Grab nimmt. All die Indizien, die ihr Enkel Hans-Peter zusammengetragen und kombiniert hat, münden in die These: Urgroßmutter Bertha, geboren 1904 in Marienbad als Tochter der Porzellanfabrik-Arbeiterin Agnes Sattler, ist ein uneheliches Königskind.

In Erfurt liest Hape Kerkeling die Passage, aus der man erfährt, wie alles begonnen haben könnte - damals im milden Sommer 1903 im schönen böhmischen Kurort, den die europäische Hochprominenz schätzt. Hier begegnen sich zufällig ein rasant radelndes junges Mädchen und ein älterer Spaziergänger, der ihr aus misslicher Lage hilft und sich dann als Herr Albert aus Coburg vorstellt. Tatsächlich ist der feine Herr Albert und alte Charmeur seit zwei Jahren ein gekröntes Haupt. Und dieser King Edward VII. inkognito findet das Fräulein Agnes entzückend, ganz entzückend...
Auch wenn der letzte Beweis fehlt: dass Hape von blauem Geblüt ist, weiß man nicht erst seit heute. 1971 will der sechsjährige Knabe am Rosenmontag unbedingt Prinzessin sein, 1991 verwandelt er sich in die beliebte Monarchin Beatrix, und 1996 erreicht er seinen royalen Zenit mit der Komödie "Willi und die Windzors".

28 Jahre nach dem prophetischen King-Willi-Film stellt das Erfurter Publikum dem Gast die ultimative K-Frage: "Wann wirst Du englischer König?" Hape Kerkeling lächelt. Also da sei er wirklich nicht scharf darauf. "Ich war ja schon holländische Königin“ sagt er und blüht stimmlich auf als Beatrix. So kollektiv vergnügt wie der Saal darauf reagiert, eint wohl alle die Erinnerung an den majestätisch komischen Auftritt vor Schloss Bellevue.

Das sketch- und textsichere Lachen gilt ebenso dem zivilen Hape-Personal, Hannelore und Uschi, Evje und Gisela, Günther und Rico, Uli und Siegfried. Nicht vergessen bei den Sympathie-Bekundungen werden auch die fünf realen Katzen aus dem Hause Kerkeling. Und natürlich bekommt das Publikum zur dringlichen Frage nach dem werten Befinden von Horst Schlämmer aus Grevenbroich sogleich ein kleines markantes Bühnensolo spendiert. Wobei die Ankündigung eines neuen Schlämmer-Films für 2025 die ohnehin gute Laune noch weiter hebt und für  Vorfreude sorgt.
Klassische Lesung, freies Bühnenspiel muntere Plauderstunde - der Abend in der Erfurter Oper ist genau wie das Buch vieles in einem. Immer wieder bittet Hape Kerkeling um Fragen und erhält sie reichlich ohne jegliche Verlegenheitspause. Die Antworten sind, nichts anderes erwartet man, üppig mit Witz, Tiefgang und einer guten Prise Selbstironie ausgestattet.

Am Ende wird der Herzensfreund des Lachens ernst. Er glaube, sagt er, dass die Mehrheit in unserem Lande die Demokratie umarme. "Wir alle sind aufgefordert, für die Demokratie einzutreten." Ein wundervoller Abend sei das hier in Erfurt gewesen. "Ich komme gern wieder."
Stehende Ovationen in der Oper für den "Meisterunterhalter". Als solcher ist er übrigens 14 Tage vor seinem Thüringer Auftritt im Wiener Belvedere mit der Platin-ROMY gewürdigt worden. In Erfurt resümiert nun Herbstlese-Programmchefin Monika Rettig in gebotener Sachlichkeit: "Er ist der Größte!" Das wird ganz gewiss nicht die letzte Hymne auf ihn in diesem Jahr sein. Schließlich feiert Hape Kerkeling in wenigen Wochen, am 9. Dezember, 60. Geburtstag. Wir können dann sogar in der ersten Reihe sitzen, denn die ARD gratuliert mit einem Thementag. Neuer Film und viele gute alte Sketche, das volle Programm.

Text: Sigurd Schwager
Fotos: Lutz Edelhoff