"Leider nur tausend Seiten!"
Clemens Meyer stellt zur Herbstlese bei Hugendubel sein Opus magnum "Die Projektoren" vor
Clemens Meyer, der immer wieder gern gesehene Herbstlese-Gast, kennt sich gut aus mit Lorbeer. Lobreden und Literaturpreise pflastern den Schreibweg des Leipziger Autors von Beginn an. Schon sein erstes Buch "Als wir träumten", ein Roman von gut halbtausend Seiten, lässt 2006 das Feuilleton mehrheitlich staunen und Preis-Jurys aktiv werden. Armin Petras bringt die Geschichte einer Leipziger Jugend in selbiger Stadt sowie in Berlin auf die Theaterbühne, Andreas Dresen holt sie später auf die Kinoleinwand.
18 Jahre nach Meyers furiosem Debüt schließt sich ein literarischer Kreis. Vom U-30-Ausnahmetalent zum U-50- Meister gereift, breitet er nun sein Opus magnum "Die Projektoren" auf mehr als tausend Seiten aus. Wie der Titel so der Roman. Er ist eine Referenz an den Film und dessen Technik, an die Bilder - und dabei selbst ganz großes Kino. Nachgerade hymnisch flimmert es im Hoch-Feuilleton: "Auf diesen Roman haben wir gewartet." Vom Knaller der Saison geht die Rede und einem Erzähler, der lustvoll das Chaos zu bändigen vermag. So gewaltig wie großartig sei Meyers Romankoloss, dass er aus einer anderen literarischen Liga grüße. Sogar das ABM-Potential wird gewürdigt. Man habe es, lesen wir, mit einer Überwältigungsprosa zu tun, die fürderhin etliche Doktorarbeiten alimentieren werde.
Glänzend gerahmt werden all die Elogen vom Literaturpreis-Betrieb: "Die Projektoren" gehören im Oktober zum finalen Kandidaten-Sextett für den Deutschen Buchpreis 2024 und sind im November Teil des erlesenen Trios, das auf den Bayerischen Buchpreis 2024 hoffen darf. Nach der Doppel-Nominierung ist Meyer weiterer Lorbeer bereits sicher, denn im Januar wird ihn der Freistaat Sachsen in Kamenz mit dem Lessing-Preis 2025 auszeichnen. Man ehre, heißt es in der Begründung, einen überaus kraftvollen Erzähler, der die pointierte kleine Form ebenso beherrsche wie den breit angelegten Roman.
Für Letzteren stehen "Die Projektoren" natürlich exemplarisch. Wobei dem Lese-Berichterstatter aus dem Erfurter Hugendubel-Areal das Kritiker-Urteil vom "rührendsten und grausamsten Roman der Saison" besonders nahe kommt. So sieht es auch Monika Rettig, die in ihren einleitenden Worten aus dem Werk zitiert: "Die Grausamkeit wandert durch die Zeit." Das, sagt die Herbstlese-Programmchefin, empfinde sie als den entscheidenden Satz in Meyers Montageroman, der zugleich aber auch ein Buch voller Komik sei.
Kein Widerspruch vom gepriesen Gast auf dem Podium und schon gar nicht von seinem kundigen Gesprächspartner Torsten Unger. Der lässt nämlich sofort den Autor und das zahlreich erschienene Publikum wissen, was er an dem Wälzer auf dem Tisch für beklagenswert hält: "Leider nur tausend Seiten! Sie zu lesen ist ein Vergnügen und Clemens Meyer ein wunderbarer Erzähler." Im weiteren Verlauf des Abends wird Dr. Unger seine literarische Zuneigung verbal sogar noch zu steigern wissen und dem Projektoren-Epos über Krieg, Krisen und Gewalt in Europa einen Stellplatz im obersten Bücherregal zuweisen - in Sichtweite vom 100jährigen Zauberberg und von der 65jährigen Blechtrommel.
Doch zunächst fragt der Moderator nach der Entstehungsgeschichte. Er habe, erzählt Meyer, schon 2008 die zentrale Figur, den Cowboy, erfunden. Damals sei er mit dem Goethe-Institut durch das kroatische Velebit-Gebirge gereist und an Orte gekommen, wo in den 60er Jahren die westdeutschen Karl-May-Filme gedreht wurden und, grausamer Zufall, 30 Jahre später die ersten Kämpfe der jugoslawischen Zerfallskriege stattfanden. Ursprünglich habe er an eine Novelle gedacht, in der die Winnetou-Filme mit der Tragödie verbunden sind. Der Rest ist Geschichte, große Romangeschichte, die ab 2015 langsam konkrete Gestalt annimmt.
Meyer liest in Erfurt aus dem Kapitel "Wölfe", das 180 Seiten lang und selbst fast ein Roman im Roman ist: "Es war einmal ein Mann im Velebit-Gebirge. Die Leute nannten ihn den Cowboy..." Das Publikum lauscht gebannt dem längeren Vortrag. Man werde gefordert, fasst anschließend Torsten Unger das Gehörte zusammen. "Hin und wieder", lächelt der Autor. Sehr kurzweilig verhakeln sich dann die beiden Herren im Gespräch über die zahllosen Vorbilder, die Meyer in sein Werk integriert und oft gut versteckt hat, sei es nun Johnson, Andric oder Hilbig. Es folgt ein eher knappes Lese-Kapitel, in dem Pierre Brice und Lex Barker nach Amerika fliegen, um Spendengelder für die Gedenkstätte von Wounded Knee zu übergeben. Wo Karl May und Winnetou sind, dürfen natürlich auch Liselotte Henrich-Welskopf und Gojko Mitic nicht fehlen.
Die Erfurter Lesung bietet eine kurze Entdeckungsreise durch einen langen Roman, in dem der Autor viele Schauplätze und noch mehr Personen aufruft, Perspektiven, Zeit- und Sprachebenen wechselt, den weiten historischen Bogen vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart spannt. Dass man sich darin nicht hoffnungslos verliert, dafür trägt der Lotse Meyer Sorge. Zum einen ordnet seine Erzählkunst verlässlich das Chaos der Stimmen. Zum anderen beweist er in Erfurt einmal mehr sein Talent, vom eigenen Schreiben mit all seinen Widernissen hinreißend erzählen zu können. Wenn er dabei irgendwann fröhlich ankündigt, sein "Gelaber" zu beenden, muss ihm der Moderator dringlich widersprechen: "Nein, nein, wir hören Ihnen hier alle wirklich gern zu."
Zeit für Fragen aus dem Publikum bleibt auch: Zum Beispiel, ob er von den Romanfiguren getrieben werde? "Sie treiben mich, ich treibe Sie. Es muss sich die Waage halten." Und ob er in den langen Jahren des Schreibens an diesem Roman auch mal versucht war, einfach alles in die Ecke zu schmeißen?
"Nie! Aber ich hatte zwischendurch beträchtliche Zweifel und Angst, weil es kein Ende nahm." Geholfen habe ihm dabei die Arbeit an seinem vorherigen Buch über Christa Wolf. "Das war wie ein Atemholen. Es hat mir Halt gegeben." Mancher im Saal wird sich noch an das kleine Juwel der Frühlingslese 2023 erinneri: die Lesung aus dem klugen Wolf-Essay sowie das zugehörige Gespräch zwischen Meyer und Unger. Wie damals endet auch der jetzige Leseabend mit starkem Beifall des Publikums.
Sichtlich zufrieden konstatiert Monika Rettig in ihren Abschiedsworten, dass die Scheu vor diesem Gebirge von einem Roman wohl verflogen sei. Obilgater Schokoladendank an den wunderbaren Erzähler Clemens Meyer und ebenso an Torsten Unger, der, - o Wunder - das Buch mindestens so gut zu kennen scheint wie dessen Verfasser.
Text: Sigurd Schwager
Fotos: Uwe-Jens Igel