Querfeldein im Kosmos von Uwe Johnson
Herbstlese-Extra: Charly Hübner und Caren Miosga reisen durch den Jahrhundertroman "Jahrestage"
90 berührende Bühnen-Minuten
Nun will der Herbst uns grüßen - und mit ihm auch wieder der Herbst der Bücher: Drei Tage nach dem meteorologischen und in Sichtweite des kalendarischen Beginns der dritten Jahreszeit macht die Herbstlese in besonderer Weise Lust auf ihre 28. Saison. Dafür sorgt als Ouvertüre in der Erfurter Oper ein prominent besetztes Lese-Extra, welches den in großer Zahl herbei geströmten Büchermenschen eine erlesene Aufführung beschert. Das eindrücklich Dargebotene auf den Punkt bringend, wird später Hanno Müller in der Thüringer Allgemeine seinen Bericht so enden lassen: "...ein Abend ganz allein mit den Worten und Gedanken von Uwe Johnson."
So ist es gewollt. Keine eingestreuten Erklärstücke. Nirgends. Die Bühne gehört und dient dem Werk eines Mannes, über den schon vor mehr als drei Jahrzehnten der hochmögende SZ-Kritiker Joachim Kaiser urteilte: "Es zeichnet sich ab, dass Johnson – der Autor der Jahrestage-Tetralogie – neben, wenn nicht vor Grass und Böll als umfassender, hellsichtiger, unbestechlicher Chronist des gesamtdeutschen Schicksals begriffen werden muss. Als Schriftsteller von weltliterarischem Rang."
Erfurt erlebt das (vorläufige) Ende einer mit viel Lob bedachten Deutschlandtour. Noch einmal darf ein großes Publikum gemeinsam darüber staunen, wie dem wunderbaren Schauspieler Charly Hübner und der bekannten Fernsehjournalistin Caren Miosga in musikalischer Begleitung von Ninon Gloger schier Unmögliches gelingt: nämlich Uwe Johnsons Jahrhundertroman "Jahrestage", der es im neuesten Suhrkamp-Schuber auf 2150 Broschurseiten bringt, für pausenlose anderthalb Stunden schlaglichtartig derart in Szene zu setzen, dass mehr als nur ein Hauch von amerikanischem Alltag und deutscher Geschichte über die Bühne und durch den Saal weht. Und dass weder Dichter- noch spezielle "Jahrestage"-Kennerschaft vonnöten sind, um das Interesse an der klug komponierten Collage bis zum letzten Satz wach zu halten.
Was der Programmzettel schlicht "Eine Vorführung" nennt, ist eine Johnson-Hommage als Feier des Lesens und der Sprache auf dem mächtigen "Jahrestage"-Strom, der durch Raum und Zeit fließt: vergehende Weimarer Republik und Nazi-Herrschaft, sowjetische Besatzungszone und DDR, Amerika und Mecklenburg, New York und Jerichow, Vietnamkrieg und Studentenproteste, zuletzt Prager Frühling und die ihn niederwalzende Panzer im August.
Der enorm wandlungsfähige Mime Charly Hübner, wie Johnson von mecklenburgischer Herkunft, präsentiert sich in Erfurt erwartbar stark auf der Höhe seines Könnens. Des Autors Sprache scheint für ihn geradezu maßgeschneidert. Aber auch Caren Miosga, die einem nicht sofort als Johnson-Protagonistin Gesine Cresspahl einfallen würde, vermag sich in ungewohnter Rolle überzeugend zu behaupten. Ebenso stimmig agiert im Hintergrund die Musikerin Ninon Gloger.
Am Ende dankt ihnen das Erfurter Publikum mit starkem Beifall, der obendrein jenem Mann gilt, den das Trio applaudierend zu sich auf die Bühne gebeten hat: Werner Stockmann, Regisseur und Schöpfer der Textmontage. Natürlich gibt es auch für ihn die obligate Krämerbrücken-Schokolade, überreicht von Herbstlese-Programmchefin Monika Rettig. Sie spricht dem Saal aus dem Herzen, als sie das Erlebte ein sehr gutes Omen für den Lese-Jahrgang 28 nennt.
Im Übrigen hält der Erfurter Abend noch ein üppiges Johnson-Nachspiel bereit. Kundige wie neugierig gewordene Damen und Herren können, wenn sie mögen, nach den 90 Bühnen-Minuten ihre Aufmerksamkeit der ultmativen XXL-Fassung widmen. Denn am Ausgang der Oper stapelt sich Johnsons vierbändige, zwischen 1970 und 1983 erschienene Romanchronik. Wobei sich die Tische nicht unter deren Wucht biegen müssen. 430 Gramm nur wiegt das Hörbuch, dem Charly Hübner und Caren Miosga ihre Stimme geliehen haben. Wort für Wort ziehen ungekürzt die "Jahrestage" vorbei. 4440 Minuten lang, fast 74 Stunden oder mehr als drei Tage und drei Nächte. Was für ein künstlerischer Kraftakt und was für eine anspruchsvolle Zuhör-Aufgabe. Die Kritik jedenfalls zeigt sich hellauf begeistert und kniet gelegentlich schon mal nieder vor dem "Hörbuch-Felsen für die Ewigkeit.“
Wer vor der Gebirgskletterei lieber noch etwas üben möchte, der findet dafür in Erfurt auch altmodisch gedrucktes Rüstzeug. Der umtriebige Charly Hübner hat wieder ein Buch geschrieben, eine "lustvolle Anleitung" (NZZ). Nach Lemmy Kilmister und dem Urschrei des Heavy Metal - Herbstlese-Besucher erinnern sich gern an Hübners leidenschaftlichen Auftritt vor einem Jahr - gilt nun seine ebenso gescheite wie kurzweilige Liebeserklärung Uwe Johnson, der 2024 seinen 90. Geburtstag gefeiert hätte, wäre er nicht vor 40 Jahren viel zu früh verstorben. Johnson ist für Hübner "der Autor meines Lebens", an dessen Hauptwerk er einst als Teenager mit einer dicken Buchclub-Ausgabe eher zufällig geriet. Bewunderung, schreibt er, sei etwas, dem er grundsätzlich sehr zweifelnd gegenüberstehe. Im Falle von Uwe Johnson setze bei ihm jedoch in der Regel der Fluchtimpuls iin Richtung Bewunderung ein. Dieser sei schließlich "eh der größte deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts". Deshalb sein kleiner Jubeltext, der sich querfeldein im Johnson-Kosmos herumtreibe.
Der Herbstlese-Extra-Berichterstatter jubelt gern mit und empfiehlt Dauer-, Wieder- oder Neulesern den Gang in die ARD-Mediathek. Dort findet man seit einiger Zeit Volker Koepps wirklich sehenswerten Dokumentarfilm "Gehen und Bleiben", der 2023 auf der Berlinale Premiere hatte. 168 Minuten lang nimmt der preisgekrönte Regisseur die Zuschauer mit auf eine bewegende Reise durch Uwe Johnsons biografische und literarische Landschaften.
Soviel Johnson war nie. Und das ist auch gut so.
Text: Sigurd Schwager
Fotos: Uwe-Jens Igel