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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
März 24 2022

Ein Abend mit Petra Gerster und Christian Nürnberger in der Kaufmannskirche

Brücke der Hoffnung

Mit gegenderten Nachrichten hat sich Petra Gerster den Unmut einiger Mitmenschen zugezogen. Ihr Mann Christian Nürnberger gab ihr den Rat: Schreib ein Buch darüber.
Mit gegenderten Nachrichten hat sich Petra Gerster den Unmut einiger Mitmenschen zugezogen. Ihr Mann Christian Nürnberger gab ihr den Rat: Schreib ein Buch darüber.

Von Sigurd Schwager

Wie wird und wie bleibt man eine prosperierende Kulturinstanz? Bezogen auf die 25jährige Erfurter Herbstlese ist ein Erfolgsgeheimnis jenes, dass der Verein von Anfang an den partnerschaftlichen Gedanken gehegt und gepflegt hat. Neuerlich illustriert das dieser Abend des vierten Frühlingstages anno 2022, an dem ziemlich viel neugieriges Publikum in die Kaufmannskirche strömt.

Es folgt der Einladung der Erfurter Herbstlese und ihrer Kooperationspartner Friedrich-Ebert-Stiftung, Katholisches Forum und Kaufmänner Gesellschaft. Letztgenannter Verein sieht seine Aufgabe darin, die in eindrucksvoller Weise neugestaltete evangelische Gemeindekirche mitten im Stadtzentrum auch als kulturellen Begegnungsort erlebbar zu machen. Musik und Literatur, Theater und Tanz In einem Gemäuer, wo Gegenwart Geschichte trifft: Hier hat Martin Luther gepredigt. Hier, in der Hauskirche der Erfurter Bach-Familie, wurden Johann Sebastian Bachs Eltern Elisabeth und Johann Ambrosius getauft und getraut.

Nicht am selben Ort getauft, wohl aber ein langjähriges Ehepaar sind die aktuellen Frühlingslese-Gäste aus Mainz: Petra Gerster und Christian Nürnberger. Beider Berufswege eint die journalistische Prägung, wobei die Vita des Gatten deutlich mehr Bücher vermerkt, die der Gattin den deutlich höheren Bekanntheitsgrad. Zehn Jahre hat Petra Gerster Im ZDF das Magazin ML Mona Lisa präsentiert und bis 26. Mai 2021 mehr als zwei Jahrzehnte lang abends ab 19 Uhr die Hauptausgabe der heute-Nachrichten moderiert.

Man darf also davon ausgehen, dass niemand in der Kaufmannskirche sitzt, der sie nicht vom Bildschirm kennt. Aber um erinnerten Fernsehruhm geht es heute nicht. Das Ehepaar ist als Autorenpaar nach Erfurt gekommen, um das neue, bereits siebte gemeinsame Buch vorzustellen. Es trägt auf gelbem Untergrund den martialischen Titel „Vermintes Gelände. Wie der Krieg um Wörter unserer Gesellschaft ändert.“ Die Fortsetzung folgt auf der Buch-Rückseite: „Identitätspolitik zwischen Vernunft und Exzess“. Darunter etwas kleiner auch die Frage: „Haben wir keine anderen Sorgen?“

Angesichts von Putins Krieg gegen die Ukraine steht diese Frage in anderer Weise auch über dieser Lesung. Petra Gerster greift sie auf, blickt sichtlich bewegt in den dicht gefüllten Kirchenraum und sagt: „Danke, dass Sie in so großer Zahl da sind.“ Das habe man in diesen Zeiten nicht erwartet. „Eigentlich müssten wir mit dem Krieg beginnen.“ Und sie tun es auch, denn jedem Krieg gehen Worte voraus. Worte können entschärfen oder weiter verschärfen.

Dann rückt der Anlass der Lesung, das Buch, in den Mittelpunkt. Dieses Buch gäbe es nicht, hätte Petra Gerster nicht kurz vor dem Ende ihrer aktiven Zeit beim ZDF damit begonnen, vor einem Millionen-Publikum am Bildschirm zu gendern. Eigenmächtig, ganz ohne Zwang von oben.

Die Reaktion darauf ist sehr schön unter der Überschrift „Ich, die Gender-Terroristin“ im Kapitel 1 zusammengefasst, aus dem die Autorin vorträgt: „Zuerst hagelte es Beschwerden am Telefon. Dann kamen böse Mails, danach beleidigte Briefe mit der Post, und es hörte nicht auf. Wut, Enttäuschung, Frust schlugen mir entgegen, manchmal sogar Hass...“ Nicht selten habe man sie heruntergeputzt wie ein Schulmädchen und ultimativ aufgefordert, endlich aufzuhören mit dem Terror.

Nach zermürbenden Wochen in gedrückter Stimmung habe ihr Mann beim Abendessen den entscheidenden Satz auf dem Weg zum Buch gesprochen: „Wenn das die Leute dermaßen aufwühlt, dann musst du ihnen begründen, warum du tust, was du tust.“ Außerdem werde er, der Genderquatsch-Gegner, ab jetzt auch gendern. Denn dieses endlose Sternchen-Gezeter nerve ihn noch mehr als die Genderei selbst.

Die Auswahl der in Erfurt gelesenen Texte veranschaulicht, was Petra Gerster und Christian Nürnberger im Buch betonen, dass es ihnen zwar auch ums Gendern, aber insgesamt um etwas Größeres gehe. Man wolle den Blick auf das Ganze weiten, was gegenwärtig unter dem Begriff Identitätspolitik verhandelt werde. Man schreibe für die Verunsicherten und verständnislos Fragenden, die mit dem Begriff Identitätspolitik nicht wirklich etwas anfangen könnten. Für die, die sich fragen, was daran schlimm sein solle, wenn man sich an seine Kindheit als Indianerhäuptling erinnere. Dieser Zielgruppe dürfte vermutlich auch das Publikum in der Kaufmannskirche mehrheitlich entsprechen. Ebenfalls zu vermuten ist, dass diejenigen, die LGBTQIA im Schlaf aufsagen können, eher geringen Erkenntnisgewinn haben.

Als dann am Ende einer ebenso lehrreichen wie unterhaltsamen Lesung, um Fragen und Meinungen gebeten wird, meldet sich niemand im Raum zu Wort. Eine vergebene Debatten-Möglichkeit? Für den Berichterstatter spricht die Stille weder gegen die Autoren noch gegen die Zuhörer. Ganz im Gegenteil. Es ist wohltuend zu erleben, wie hoch strittige Dinge ohne alles Eiferertum in versöhnlicher Absicht besprochen werden können, wenn dem eigenen Gedanken viel Raum gegeben wird.

Das Gerster-Nürnberger-Credo nimmt man gern mit auf den Heimweg: „Schließlich schreiben wir dieses Buch vor allem in der Hoffnung, eine Brücke bauen zu können zwischen denen, die sich vor moralischem Rigorismus und Meinungs-Unfreiheit fürchten, und denen, die glauben, dass es nicht um ‚Gesinnungsterror‘ gehe, sondern nur um eine gesteigerte Sensibilität gegenüber Diskriminierungen aller Art.“

Eine Brücke der Hoffnung. Die können wir alle in dieser Zeit wahrlich gut gebrauchen. Mit und ohne Gendern.

Viel Beifall für das sympathische Autorenpaar. Wohlwollend notiert ist deren Versprechen einer Wiederkehr. Natürlich nach Erfurt, nicht nach Siefurt.

 


Petra Gerster / Christian Nürnberger „Vermintes Gelände. Wie der Krieg um Wörter unserer Gesellschaft ändert.“
ISBN: 3453606108
Heyne Taschenbuch Verlag
16,00 €

 

Das Buch kann über diesen Link bei unserem langjähringen
Partner Hugendubel bestellt werden.

 

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