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Erfurter Herbstlese
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März 21 2023

Ulf Annel nutzt zur Frühlingslese „Die Gunst des Augenblicks“

Ein Abend wie er im Poesiealbum steht

Gruppenbild mit Poesiealbum: Die Herren Ioan Cozacu, Klaus-Peter Anders, Ulf Annel, Jürgen Adlung und Siegfried Nucke. Foto: Uwe-Jens Igel
Gruppenbild mit Poesiealbum: Die Herren Ioan Cozacu, Klaus-Peter Anders, Ulf Annel, Jürgen Adlung und Siegfried Nucke. Foto: Uwe-Jens Igel

Von Sigurd Schwager

„Alles freuet sich und hoffet, wenn der Frühling sich erneut.“ Mit Friedrich Schiller hält es auch die Frühlingslese 2023, indem sie am 20. März in seinem Sinne „Die Gunst des Augenblicks“ nutzt. Denn wie könnte man die Ankunft des Frühlings besser feiern als mit einem bunten Strauß von Gedichten? Und wo wäre man damit besser aufgehoben als in einem schönen alten Erfurter Gemäuer, dessen Gastfreundschaft schon Schiller genoss?

So darf nun das vielköpfige Publikum im Hause Dacheröden einen Abend erwarten wie er im Poesiealbum steht, und zwar in der Nummer 375 dieser einzigartigen Lyrikreihe, von der man 1990 nach ihrem Müllkippen-Finale traurig dachte, sie sei mit der DDR verblichen. Aber das Poesiealbum gehört zu den Totgesagten, die länger leben, und widmet seine jüngste Ausgabe dem lyrischen Schaffen von Ulf Annel, Instanz und Eminenz des Erfurter Kabaretts „Die Arche“.

Wenn man sich im Saal umschaut und umhört, bestätigt sich gleich doppelt die Erwartung, einem klassischen Heimspiel beizuwohnen: Zum einen sitzt hier niemand, dem man noch erklären müsste, wer dieser graumähnige, schnauzbärtige Brettl-, Buch- und Blattmann da vorn ist. Zum anderen schweben im Raum allerlei eigene Erinnerungen an alte Albenzeiten.

Die früheste Erinnerung an das Poesiealbum datiert 1967. Damals, zur 18. Jahresfeier der DDR, erscheint im Jugendverlag Neues Leben das erste Exemplar in einer Form, die bleiben wird: 32 Seiten mit Klammerheftung, 12,5 Zentimeter breit und 21,5 Zentimeter hoch, farbiger Umschlag und Grafik im Inneren. Das Monatsheft kost 90 Pfennige und startet hochkarätig mit Gedichten von Bertolt Brecht. Ihm folgen Wladimir Majakowski und Heinrich Heine. Bildkünstlerisch begleitet werden die drei von Werner Klemke, Kurt Zimmermann und Horst Hussel.

Betrachtet man gelegentlich des aktuellen Erfurter Abends das erste Alben-Dutzend, wird man nebenbei auch lokalpatriotisch fündig. Die darin dichten, übersetzen oder zeichnen, haben ziemlich oft einen engen Thüringen-Bezug: Wulf Kirsten, Theodor Storm, Reiner Kunze und Louis Fürnberg, Sarah Kirsch und Ronald Paris. Bernd Jentzsch, verdienstvoller Gründungsvater des Poesiealbums, geht als studentischer Teilzeit-Thüringer durch.

In den 60ern das Ende des Prager Frühlings, in den 70ern Wolf Biermanns Ausbürgerung, die auch Jentzsch das Land verlassen lässt, in den 80ern Glasnost und Perestroika: Heute liest sich die natürlich damit verknüpfte Geschichte des DDR-Poesiealbums in Teilen wie ein spannender Roman. Immer wieder stehen Superstars der Weltliteratur Seite an Seite mit unbekanntem Dichternachwuchs. Manchmal wird scheinbar Unmögliches möglich, Reiner Kunze 1968 oder Thomas Brasch 1974, und dann wieder Mögliches unmöglich. Die Liste der Verhinderten ist beträchtlich. Andererseits trifft hier Dylan Thomas auf Bob Dylan oder Karl Marx auf Charles Bukowski, begegnen sich Anna Achmatowa und Arthur Rimbaud und nicht zuletzt die Annelschen Humor-Heroen Joachim Ringelnatz und Christian Morgenstern.

Wundertüte und Füllhorn des Geistes. Pflichtlektüre für die Lyrik-Gemeinde, siebenstellige Gesamtauflage – der Dresdner Dichter Thomas Rosenlöcher (Poesiealbum 286) hat sich rückblickend so an dieses DDR-Verlags-Phänomen erinnert: „Der damalige Überfluss an Mangelware war auch gekennzeichnet durch einen auffälligen Mangel an Sinnersatzmitteln.“ Als ein solches sei ihm damals als junger Mann der „Farbklecks im Kiosk“ erschienen.

Der Mann, der im Haus Dacheröden auf dem Podium neben Ulf Annel sitzt, rät eher nicht zum Kiosk-Besuch, weil der genauso vergeblich sein dürfte wie der Gang ins Buchgeschäft. Klaus-Peter Anders, der 2007 mit seinem Märkischen Verlag Wilhelmshorst das Poesiealbum wiederbelebt und erfolgreich von der Nummer 277 (Peter Huchel) bis zur Nummer 375 (Ulf Annel) geführt hat, empfiehlt, das Heft zum Preis von 5 Euro direkt beim Verlag zu bestellen oder besser noch gleich ein Abonnement abzuschließen. Nur heut geht es noch besser: Direktverkauf mit Signiergarantie.

Dr. Anders erzählt dezent schuldbewusst, dass er den Autor aus dem fernen Erfurt vorher gar nicht gekannt habe. Dieser sei ihm von einem hochgeschätzten Rudolstädter Schriftsteller wärmstens ans Herz gelegt worden. Weil unter anderem: „Die Verse schlagen und kabbeln sich, haben Füße und Bauch.“ Nach dem Tod von Matthias Biskupek vervollständigt Siegfried Nucke dessen Auswahl. Der Autor und Verleger aus Bad Tabarz ist auf dem Podium der Dritte im Bunde und weiß vergnüglich von seinen studentischen Poesiealbum-Erinnerungen und den aktuellen Auswähler-Qualen zu berichten.

Komplettiert wird das Podium vom freundlichen Ioan Cozacu, einem wahren Meister der Zeichenkunst. Mit Feder und Tinte belegen im Heft „Tagein, tagaus“ und „Humor zu Humus“ einmal mehr die preisgekrönte Könnerschaft von NEL. Die Freude am Album 375 wäre noch größer, wenn bei Nachauflagen sein Name richtig geschrieben würde.

Völlig ungetrübt ist die Freude am fünften Mann. Jürgen Adlung, auch er wie Ulf Annel ein waschechter Erfurter, hat den Blues, Ragtime, Swing, Jazz, und Boogie Woogie im Blut. Annel beugt das Haupt vor Mr. Speedfinger, dem Weltrekordler. Seit 2011 darf er den Titel tragen. Damals schafft der Pianist in Erfurt beim New Orleans Music Festival linkshändig 816 Anschläge in einer Minute. Den schnellsten Boogie-Woogie der Welt gibt es diesmal nicht, aber das Tempo reicht allemal aus, um dem Publikum wie ein Blitz in die Beine zu fahren und tumultartigen Applaus auszulösen.

Noch‘n Gedicht oder Noch‘n Boogie-Woogie? Man weiß gar nicht, was man sich zuerst wünschen soll. Der Berichterstatter hätte für eine Wiederholung des schnellsten Rennsteigliedes aller Zeiten plädiert. Gibt es Schöneres? „Das Schönste an diesen Lesungen“, sagt Ulf Annel, „sind immer die Einführungen von Monika Rettig.“ Weil das die reine Wahrheit ist, gibt es dafür Beifall auf offener Szene. Dann liest Annel gesammelten Annel: „Gedichte gehn nicht, / sagt der Verleger. / Gedichte gehn schlecht, / sagt die Buchhändlerin. / Gedichte gehn, / sagt der Dichter: / von Hand zu Hand, / von Mund zu Ohr, / von Ohr zu Herz, / manchmal ins Hirn.“ Bei Ulf Annel gehn sie, weil oft fröhlich pointiert und gern auch derb, nicht nur manchmal ins Zwerchfell.

Am Schluss wird er rezitierend bei der Liebe landen. Wo sonst? „Liebe ist“, wusste 1930 Kurt Tucholsky, „wenn sie dir die Krümel aus dem Bett macht.“ „Liebe ist“, trägt 2023 Tucho-Fan Annel vor, „wenn sie ihm die Haare von den Zähnen küsst.“

Und dann ist leider schon Schluss. Zwei Stunden, vollgepackt mit Poesie, poetischem Werkstattgespräch und elektrisierender Musik sind wie im Fluge vergangen. Der Beifall rauscht, und gut gelaunt verlässt das Publikum den Saal. In einer knappen Stunde, um 22.24 Uhr, beginnt der offizielle Frühling.

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