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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
März 17 2023

Die Laudatio von Jens Beljan zur Midissage am 25.02.2023

Rede zum Erscheinen des Buches „Dazwischen / In Between"

Jens Beljan bei der Laudatio (c) Lutz Edelhoff
Jens Beljan bei der Laudatio (c) Lutz Edelhoff

Passend zur Fotoreportage-Ausstellung „beyond stage – jenseits der Bühne | 10 Jahre unterwegs mit Martin Kohlstedt“ von Fotograf Peter Runkewitz erschien am 25. Februar 2023 das erste Buch dieses Projekts „dazwischen - in between | 10 Jahre backstage mit Martin Kohlstedt“.

Am Abend der Midissage hielt Dr. Jens Beljan die folgende Laudatio:

 

Herzlich Willkommen,

ich freue mich sehr, dass ich an diesem Abend die Laudatio halten darf. Eine Laudatio ist bekanntermaßen eine Lobrede, in der man die Leistungen einer Person, aber auch die Person selbst würdigt. Was die Lobpreisung betrifft, so ist der Fotograf Peter Runkewitz nicht schüchtern und er ist, wenn ich richtig sehe, auch nicht bescheiden. Ein so großes und umfassendes Fotoprojekt, wie wir es heute feiern, hätte er sonst nicht auf die Beine stellen können. Aber es gibt eine Sache die Peter Runkewitz nicht gerne tut: er gibt nicht gerne an. Genau das werde ich heute also für ihn machen. Bei der Vorbereitung dafür habe ich gelernt, dass es etwas gibt, das man in einer Laudatio auf keinen Fall tun sollte, weil es als eine grobe Taktlosigkeit gilt: man soll nicht über sich selbst sprechen. Da Peter Runkewitz nun aber – Achtung, hier kommt das erste Lob! – sehr großzügig ist und sich gewünscht hat, dass ich ein paar Worte zu mir sage, werde ich diese Taktlosigkeit für ihn begehen.

Ich bin Jens Beljan. Ich arbeite und forsche an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Bereich Sozialtheorie und Bildungsphilosophie. Ich habe bei Hartmut Rosa zum Thema Resonanz promoviert, was sehr viel mit Musik zu tun hat. Martin Kohlstedt hatte mit Hartmut Rosa bereits eine Veranstaltung, so dass bereits eine Verbindung zwischen uns bestanden hat. Derzeit beschäftigt mich das Thema „Expressivität“. Insbesondere der Umstand, dass wir lernen und uns weiterentwickeln, indem wir uns ausdrücken und artikulieren, zum Beispiel durch das Medium der Fotografie oder der Musik. Vielleicht wird damit etwas deutlicher, aus welcher Perspektive ich auf das Fotobuch schaue.

Es ist schön zu sehen, dass so viele Menschen hierhergekommen sind, um das Erscheinen des Fotobuchs von Peter Runkewitz zu feiern. Auf 164 Seiten zeigt es uns den Werdegang des Musikers Martin Kohlstedt über 10 Jahre hinweg, von 2013 bis 2023. Es enthält auch kleinere Texte, die kurze Eindrücke und Gedanken zu den Fotos festhalten. Alle Beiträge im Buch sind auf Deutsch und auf Englisch abgedruckt. Daher trägt es auch die beiden Titel: „Dazwischen“ und „In Between“.

Es ist Ihnen vielleicht schon aufgefallen, wir befinden uns hier nicht auf einer Vernissage und auch nicht auf einer Finissage, sondern auf einer Midissage, einer Halbzeitveranstaltung oder auch Zwischenveranstaltung. Das Zwischen ist auch das Thema der Fotos. Sie zeigen nicht das, was wir während der Konzerte von Martin Kohlstedt auf der Bühne sehen. Sie geben uns einen Einblick in das, was hinter der Kulisse vor den Augen des Publikums verborgen stattfindet: den Backstagebereich. „Backstage“, das ist der Ort zwischen den Konzerten, aber auch der Ort zwischen privater Freizeit und öffentlichem Auftritt. Gemeint ist damit aber nicht nur ein physischer Raum an Veranstaltungsorten, sondern auch ein symbolischer Ort, an dem sehr bedeutsame Übergänge stattfinden, auf die ich gleich etwas näher eingehen werde.

Zuvor möchte ich auf zwei Dinge hinweisen, die an dem Fotoprojekt erstaunlich sind: Zum einen handelt es sich um eine Langzeitdokumentation. Wir befinden uns in einer sehr schnelllebigen Zeit, was sich auch an der öffentlichen Kommunikation bemerkbar macht, die heute, anders als früher, nicht mehr durch Schrift und Texte, sondern vermehrt durch Bilder erzeugt wird. Doch Bilder haben gegenwärtig eine sehr kurze Halbwertszeit. Sie tauchen in den Nachrichten und in den Sozialen Medien auf, können dort eine enorme Dynamik und Emotionalität auslösen, die selbst die Politik beeinflusst und dann verschwinden sie wieder, so schnell wie sie aufgeblitzt sind. Es handelt sich um Schnappschüsse, die stets nur sehr kurze Aufmerksamkeit erhalten. Hier stellt das Fotoprojekt, das mit einer zehn-jährigen Kontinuität durchgeführt wurde, eine absolute Ausnahme dar. Dabei war es ein glücklicher Zufall, dass Peter Runkewitz tatsächlich beim allerersten Solokonzert von Martin Kohlstedt dabei war und bereits dort Fotos geschossen hat. Man kann sich also darauf verlassen, dass er einen Blick für die besonderen Momente entwickelt hat.

Peter Runkewitz hat einmal gesagt: „Jedes Foto ist eine Lüge.“ Diese Aussage kann einen stutzig machen, vor allem, wenn sie aus dem Mund eines Dokumentarfotografen kommt. Gemeint ist damit aber offenkundig nicht, dass Fotos uns Unwahrheiten erzählen. Gemeint ist, dass jedes Foto niemals die ganze Wahrheit zeigt, dass es die Wirklichkeit zuschneidet und auch beschneidet. Genauso tut dies auch eine Laudatio. Auch ich habe mit meinem Blick auf das Fotobuch und den Fotografen geschaut, auch ich werde einige Aspekte hervorheben und anderes, das vielleicht genauso wichtig wäre, unerwähnt lassen. Bei meiner Vorbereitung sind mir jedenfalls drei Achsen aufgefallen, über die ich im Folgenden sprechen möchte. Mit „Achsen“ meine ich, dass es Verbindungen gibt, zwischen Peter Runkewitz‘ Person, seiner Arbeitsweise und den entstandenen Bildern. Sie sehen, ich bin nicht ganz umhingekommen, eine kleine Theorie zu basteln. Ich hoffe jedenfalls, dass Ihnen diese drei Achsen verständlicher machen, was den Künstler bewegt und Ihnen zeitgleich einen Zugang zu den Fotografien eröffnen. Ich nenne diese drei Achsen: das Ja, der Riss und die Skizze.

Das Ja
Als ich Peter Runkewitz noch nicht persönlich kannte, habe ich über ihn etwas gehört, das mich aufhorchen ließ. Er hatte vor ungefähr einem Jahr mit meiner Frau – sie ist auch Musikerin –, ein Fotoprojekt geplant. Meine Frau erzählte mir damals, dass Peter Runkewitz Martin Kohlstedt, Faber und Gispert von Knyphausen fotografiert hat, dass er mit Käptn Peng auf Tour war und bei Hammerschmidt und Gladigau eine Ausstellung hatte. Das alles sind Dinge, mit denen man durchaus angeben kann. Aber es war etwas anderes, das einen nachhaltigeren Eindruck bei mir hinterließ. Meine Frau sagte auch, dass Peter Runkewitz Fotos nur dann macht, wenn er zu dem Projekt mit ganzem Herzen „Ja" sagen kann. Wer so etwas sagt und es auch meint, hat in erster Linie kein wirtschaftliches Interesse. Natürlich müssen auch Fotografen ihren Unterhalt verdienen, aber das steht hier nicht im Vordergrund. Eine solche Aussage steht ebenso wenig für einen radikalen Idealismus, so, als würde er nur dann fotografieren, wenn das Produkt einem bestimmten Ideal entspricht. Wer so etwas sagt, dem geht es darum, in dem, was er tut, wirklich präsent zu sein, als ganze Person. Und das hat, wie ich meine, sehr viel mit dem Fotobuch zu tun, das wir jetzt in den Händen halten können.
Man könnte denken, günstige Umstände, der Zufall oder reines Glück haben dazu geführt, dass Peter Runkewitz seinem Fotomodell über zehn Jahre lang treu geblieben ist. Man könnte meinen, dass in dieser Zeit einfach sehr viele Fotos entstanden sind, die man jetzt nachträglich zu einem Fotobuch zusammenfasst. Aber das ist nicht das, was wirklich geschehen ist. Peter Runkewitz hatte die Idee, eine Langzeitdokumentation über einen aufstrebenden Künstler anzufertigen, schon sehr früh. Er hatte sie bereits, als er die Fotografie zwischen 2013 und 2015 zu seiner Profession machte; übrigens mit ganz wunderbaren Selbstportraits, die er Short Films nannte. Jemanden über eine so lange Zeit zu begleiten, wie Peter Runkewitz es getan hat, verlangt die Fähigkeit, wirklich „Ja“ sagen zu können, zu einem Projekt, zu einem Künstler und zu den vielen kleinen Momenten, die er in dieser Zeit festgehalten hat. Peter Runkewitz hat gesagt, dass man nur fotografieren kann, was man auch verstanden hat. Auch das hat etwas mit dem „Ja“ zu tun. Denn Verstehen meint hier nicht, dass man etwas von außen beobachtet oder versteht, wie es funktioniert. Es meint, dass man etwas von innen heraus begreift. In der Wissenschaft würden wir hier von einer „ethnographischen“ Forschungsmethode sprechen. Man versteht etwas besser, wenn man es mitlebt, wenn man es erlebt, daran teilnimmt und Anteil nimmt, so dass man weiß, wie es sich anfühlt. Und auch das hat Peter Runkewitz getan, er war auf den Touren dabei, die ganze Zeit; er hat das Musikerleben mitgelebt.

Der Riss
Als ich Peter dann kennengelernt hatte, saßen wir eines Abends mit einem Freund zu Hause an unserem Küchentisch. Peter begann zu erzählen, dass er Martin Kohlstedt fotografiert, auf der Bühne, hinter der Bühne, neben der Bühne und auch schon im Urlaub. Als unser Freund das hörte, sah er Peter plötzlich ernst an und frage: „Weiß er das?“ – Ja, er weiß es und das Fotobuch ist der Beweis dafür. Aber genau dieses Wissen, dass man fotografiert wird, ist ganz entscheidend für das, was man letztendlich auf den Bildern sieht. Auf den Bildern sehen wir nämlich nicht die Erfolgsmomente auf der Bühne, nicht die öffentlichen Inszenierungen, das perfekte Ergebnis. Im Fotobuch sehen wir viele kleine Momente, von denen die Öffentlichkeit in der Regel ausgeschlossen ist. Es zeigt, was sich hinter der Bühne abspielt. Und diese Momente könnten auf den ersten Blick fast banal wirken: Wir sehen Martin, wie er sich die Zähne putzt, Martin, wie er wieder einmal irgendwo rumliegt, Martin, wie er jemanden drückt. Aber (und da dürfen wir dem Fotografen wirklich vertrauen), diese Momente sind subjektiv hochgradig bedeutsam, für die Anwesenden und auch für das, was am Ende auf der Bühne zu sehen und zu hören ist. Ich glaube, dass man hier so etwas wie ein Grundthema des Fotobuchs und eine Grundidee des künstlerischen Anliegens von Peter Runkewitz finden kann: Es ist die Suche nach einem Riss. Peter Runkewitz hat gesagt, er möchte mit seinen Fotos ein wenig am Ideal des Künstlers kratzen. Sicher nicht, um ihn vom Sockel zu stoßen, sondern um den Menschen hinter der Kulisse zu zeigen.
Es ist der Backstagebereich, an dem etwas sehr Entscheidendes stattfindet, an dem sich ein Übergang vollzieht, der in der Kunst besonders deutlich hervortritt, weil Künstlerinnen und Künstler mit dem Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Existenz arbeiten. Doch genau dieses Verhältnis, dieser Übergang ist für alle Menschen wichtig, weil er, wie ich glaube, unsere Lebensdynamik im Ganzen ausmacht: Auch wenn wir es nicht merken, wir sind permanent damit beschäftigt, was wir von uns zum Ausdruck bringen. Wer wir sind, hängt mitunter davon ab, was wir von uns zeigen und was wir verbergen, vor anderen und vor uns selbst. Jedenfalls glaube ich, dass Peter Runkewitz diese Spannung im Fotobuch in Szene setzt, dass er diesen Riss ergreifen und festhalten will. Davon berichten auch die kleineren Texteinschübe, die assoziative Eindrücke und Stimmungen beschreiben. Um dieses Leben im Dazwischen zu zeigen, müssen die Personen zwar wissen, dass sie fotografiert werden, es darf sie aber nicht mehr interessieren, wie Peter Runkewitz erklärt hat. Das Wissen muss zu einem Nichtwissen werden. Das schafft man nur, wenn man eine ganz große Vertrautheit erzeugen kann, und das ist eine von Peter Runkewitz‘ Superkräften. Peter ist immer dabei, auch wenn man ihn nicht sieht. Diese Intimität, das Vertrauen, die enge Freundschaft und die große Nähe sprechen aus jedem einzelnen Foto.

Die Skizze
Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera hat in seinem berühmten Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins geschrieben: „Was kann das Leben wert sein, wenn die Probe für das Leben schon das Leben selber ist?“ Und er hat hinzugefügt: „Aus diesem Grund gleicht das Leben immer einer Skizze.“ Ich könnte das Zitat verlängern und weiterlesen, aber ich breche es hier ab. Es geht für den Menschen nämlich nicht sonderlich gut aus. Kundera bedauert, dass wir in unserem Leben dazu verdammt sind, das, worauf wir abzielen, zu verfehlen, weil alles, was wir tun, nur eine Skizze bleibt, nur der Entwurf von etwas ist, das niemals zur Vollendung kommen kann, weil wir nach dem ersten Versuch nicht zurückgehen und es besser machen können. Mit Peter Runkewitz habe ich gelernt, dass man das auch anders sehen kann. Peter hat eine starke Vorliebe für die Skizze, denn in der Skizze liegt sehr viel Schönheit. Und das ist nachvollziehbar. Die Skizze und der Entwurf ist nämlich auch der Ort, an dem das Leben stattfindet, in der Skizze manifestiert sich unsere Lebendigkeit, das schreibt ja auch Kundera. Das Leben ist die Skizze, der Entwurf ist Lebendigkeit, es ist der schöpferische Ort, an dem etwas entsteht, ins Leben kommt. Ich glaube, dass uns das Fotobuch auch das zeigen kann: Es dokumentiert den Ort und das Geschehen, an dem ein Entwurf stattfindet.
Ich durfte Peter Runkewitz beim Arbeiten über die Schulter schauen und ich bin davon überzeugt, dass er einen ganz präzisen Blick für den Wert der Skizze, den Zauber des Entwurfs und die Bedeutung der Probe hat. Er sieht die Bedeutung und Kraft in etwas, das wir im Alltag oft als das Unfertige abtun. Im Entwurf, auch das hat Peter Runkewitz gesagt, liegt oft viel mehr Wesenhaftes als in aufgeblasenen und auf Hochglanz polierten Inszenierungen, den künstlichen und sterilen Produktionen, in denen das Leben, die Reibung, die Resonanz, das Skizzenhafte eliminiert wurde. In dieser Achse ist noch ein anderer Aspekt interessant, den ich als letzten Punkt erwähnen möchte. Peter Runkewitz ist, obwohl er dokumentiert, kein stummer und stiller Beobachter. Er bringt seine Sicht in die Arbeit an der Skizze aktiv mit ein und gestaltet die visuelle Existenz des Künstlers mit. Ich glaube, dass seine Kraft auch darin liegt, sich nicht davor zu scheuen, die Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren, um ihr Wesen deutlicher hervortreten zu lassen. Und wenn man jemanden an seiner Seite hat, der wirklich präsent ist, der Vertrauen erzeugt und sich auch den schwierigen Fragen, die sich aus dem skizzenhaften Entwurf ergeben, nicht entzieht, ich glaube, dann hat man als Kunstschaffender großes Glück.

Auch ich möchte nun zum Wesentlichen zurückkommen: Lieber Peter, ich wünsche dir, dass sich ganz viele Menschen dein Fotobuch anschauen und uns allen einen wunderbaren Abend.
Vielen Dank.

Dr. Jens Beljan, am 25.02.2023 im Kultur: Haus Dacheröden

 

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