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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 29 2019

Eugen Ruge stellt in Erfurt seinen Jahrhundertroman „Metropol“ vor

Lotte in Moskau

Für den Herbstlese-Rezensenten ist „Metropol“ das deutschsprachige Buchereignis des Jahres 2019
Für den Herbstlese-Rezensenten ist „Metropol“ das deutschsprachige Buchereignis des Jahres 2019

Von Sigurd Schwager

Der Saal ist ausverkauft und die Erwartung groß, einen, wenn nicht gar d e n literarischen Höhepunkt der Herbstlese 2019 im Haus am Breitstrom zu erleben. Denn die Bühne betritt Eugen Ruge, ein studierter Mathematiker, dessen Dichterstern vor acht Jahren mit seinem Romandebüt "In Zeiten des abnehmenden Lichts" ebenso plötzlich wie hell aufleuchtete.  Das Familienepos wird von den Lesern geliebt, von den Kritikern hochgelobt und von den Juroren mit bedeutenden Preisen gewürdigt, später von Matti Geschonneck glänzend verfilmt.

Ob sich wohl mancher im Publikum noch an Ruges Herbstlese-Premiere am ersten Novemberabend 2011 erinnert? Gut möglich. Acht Jahre später stellt der Autor in Erfurt seinen zweiten großen Roman vor. Wieder hat er die eigene Familie im Blick und da vor allem die ergreifende Geschichte seiner Großmutter Charlotte. Eugen Ruge ist gerade zum neuen Mainzer Stadtschreiber erkoren worden, und die Begründung für die Wahl beschreibt ziemlich gut auch die Qualitäten des neuen Romans „Metropol“, der nicht wenigen im Lande als das deutschsprachige Buch dieses Jahres gilt: Bei Eugen Ruge werde aus Biografie große Literatur. Mit Empathie für seine oft widersprüchlichen Figuren erzähle er von Loyalität und Verrat in Zeiten der Diktatur. Der Autor sei ein Meister im Schildern von Familienbeziehungen und Lebensentwürfen, geschrieben in einer klaren Sprache mit souveränem Gespür für Dialoge, Tempo und Pointe.

Die Erfurter Lesung beginnt mit altem Radioton: Gawarit Moskwa! Dann erklingt „Das Lied vom Vaterland“. Auf der Leinwand kann man den Text übersetzt nachlesen. „Vaterland, kein Feind soll dich gefährden! Teures Land, das unsre Liebe trägt! Denn es gibt kein andres Land auf Erden, wo das Herz so frei dem Menschen schlägt. (...) Jeder darf am Tisch des Lebens weilen. Jedem Ehre, dem Verdienst gebührt! Unser Stalin schrieb‘s mit goldnen Zeilen, das Gesetz, das seinen Namen führt...“

Ein kleiner Gruß aus dem Moskau der 30er Jahre, sagt Eugen Ruge dazu, und dass das populäre Lied aus einem damals neuen Film, „Zirkus“ heißt er, eine Rolle in seinem Roman spielt. Später werden auf der Leinwand verschiedene alte Fotografien zu sehen sein. Sie zeigen außer Charlotte die Revolutionärin und Denunziantin Hilde Tal, die 1938 erschossen wird, sowie Wassili Wassiljewitsch Ulrich, der als Richter im Laufe des Großen Terrors mehr als 30 000 Todesurteile unterschreibt, mit hohen Orden dekoriert wird und 1951 in Moskau friedlich und in seinem Bett stirbt.

Und es gibt ein Bild vom titelstiftenden Moskauer Hotel „Metropol“, in dem das sowjetische Innenministerium 1936 suspendierte Mitglieder der Kommunistischen Internationale und deren Geheimdienst einquartiert. Dort, im Zimmer 479, warten Charlotte und ihr Mann Hans 477 Tage und Nächte auf die Entscheidung, was mit ihnen geschieht: Tod durch Erschießen oder zurück in den Dienst der Partei.

Eugen Ruge liest in Erfurt drei kurze Stücke vom Anfang des Buches und beginnt mit der dem ersten Kapitel vorangestellten streng geheimen Mitteilung, die Hilde Tal am 23. August 1936 über Charlotte und Hans schreibt: „Mir ist es bekannt aus einigen Gespraechen aus den Jahren 1933, dass der Genosse Jean Germain und die Genossin Lotte Germain bei dem trotzkistischen Banditen EMEL verkehrten. Die Bekanntschaft stammt aus der gemeinsamen Arbeit der Gen. Lotte Germain und der Frau des EMEL in der Berliner Handelsvertretung. Ob diese Bekanntschaft auch gegenwaertig bestanden hat ist mir nicht bekannt.“

Der gut halbstündigen Lesung - eine zweite wird den Abend beschließen - folgt ein Gespräch mit dem Autor, dass Hans-Dieter Schütt, ein oft und immer wieder gern gesehener Herbstlese-Gast, gewohnt klug und kundig führt. Schütt geht es wie vielen anderen Lesern, die das Buch erschüttert hat, die mitgelitten haben. Er empfindet wie sein Kritiker-Kollege von der FAZ, der notiert, man entkomme dem Sog dieses Romans so wenig wie dessen meiste Akteure dem stalinistischen Vernichtungswillen, und obwohl man um den groben Verlauf der historischen Ereignisse wisse, sei die semifiktionale Geschichte immer wieder überraschend.

Schütt fragt, wie der Erzähler Ruge und der Rechercheur Ruge beim Entstehen des Werkes ihren Kampf miteinander ausgefochten haben. Die Großmutter, sagt der Autor, habe ihm kein Wort dazu erzählt, und er wisse auch nicht was sie wirklich gedacht hat. Mancher Anhaltspunkt sei aber vom Vater gekommen und auch durch das Studium ihrer Komitern-Akten. „Mich interessiert: Was passiert zwischen den Dokumenten?“ Er betont, was man im Epilog von „Metropol“ ausführlich nachlesen kann: Dass es nicht seine Absicht gewesen sei, eine Dokumentation zu verfassen, er der Stalinismus-Forschung nichts hinzuzufügen hat.

Die Fakten über den Stalinismus seien im Wesentlichen bekannt. Erzählen bedeutet auszuprobieren, ob es tatsächlich so gewesen sein kann.    Und doch, auch darin sind sich Ruge und Schütt einig, ist manches Rätsel im Handeln von Menschen nicht auflösbar. Zwei Sätze des Autors, seinen Roman betreffend, könnten ein wenig hilfreich sein. Der erste lautet: „Die wahrscheinlichen Details sind erfunden, die unwahrscheinlichsten sind wahr.“ Und der zweite: Es sei dies eine Geschichte darüber, „was Menschen zu glauben bereit, zu glauben imstande sind.“

Starker Beifall für einen Abend., der im Gedächtnis bleibt. Herbstlese-Programmchefin Monika Rettig blickt in den Saal und findet das beste Schlusswort. „Lesen Sie dieses Buch!“

Eugen Ruge liest aus „Metropol“

Fotos: Holger John / VIADATA

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