Peter Hennings „Die Chronik des verpassten Glücks“ im Bürgersaal des Hauses Dacheröden
Unvollendete Metamorphose
Bevor es richtig losgeht mit der Lesung, bittet Peter Henning zum Gruppenfoto. Er muss das machen, sagt er, damit seine zwölfjährige Tochter sehen kann, dass wirklich Leute in seine Veranstaltung kommen. Der Moment lockert die Stimmung im Bürgersaal des Hauses Dacheröden ungemein. Die beiden Herren im Podium, der Vorleser und Autor und sein Gesprächspartner Hanno Müller, verzichten sogar auf ihre Mikrofone. Man ist unter sich, alle verstehen sich.
Es sind Abende wie diese, die den besonderen Reiz der Herbstlese ausmachen. Natürlich gibt es Abende, da strömen mehr Menschen zusammen; in der Regel, um eine Berühmtheit, die es oft aus marketingtechnischem Kalkül unter die Schreibenden gezogen hat, einmal lebensecht zu erleben. Das ist auch gut so, schließlich finanziert der Promi-Bonus den literarisch anspruchsvolleren Teil des Festivals mit. So kann sich die Herbstlese sogar einen Gesprächspartner leisten. Es ist an der Zeit, dem Henningschen Sound zu lauschen, den seine Leser schon nach wenigen Zeilen erkennen, meint Programmchefin Monika Rettig in ihrer Vorstellung des Gastes. So ist dieser Abend nicht in Gänze ausverkauft, doch der Saal aufgefüllt mit freudiger Erwartung.
Um Missverständnisse auszuschließen: Es geht hier nicht um einen Soundtrack, eine Abfolge von Liedern und Stücken, die den Autor und sein Publikum auf ihren Lebenswegen begleiteten und begleiten. Es geht um die sprachliche Komposition des ureigenen Werkes. Im Falle von Henning eine höchst kunstvoll verwobene Sammlung von wirklich Erlebtem und phantasievoller Zudichtung. Gemäß dem Motto, so hätte es ja auch sein können.
Die Handlung des neuen Romans von Peter Henning „Die Chronik des verpassten Glücks“ ist kunstvoll inszeniert. Sie nimmt Autobiografisches auf, durchaus zur Genüge, und würzt sie mit Ausgedachtem. Die Grenzen dazwischen sind, wenn überhaupt, nur dem Autor bekannt. Also: Stiefvater ist Pole, ein Desperado, kriminell, aber auch ein Beschützer und passionierter Schmetterlingsjäger? Genau wie bei Henning. Dunkle Geheimnisse, Verstrickungen in die NS-Diktatur gar? Eher ausgedacht. Sein Vater kein guter Mensch? Na klar. Der sich bei Gelegenheit eine Kugel durch den Kopf jagte? Nicht die Bohne. Der Mann lebt.
Zwischen den vorgelesenen Passagen des Romans kommen die beiden Herren ins unterhaltsame Schwatzen. Es ist vergnüglich, weil sie selten einer Meinung sind. Düsternis zeichnet der Rezensent, helle Hoffnung der Autor. Zum Beweis müssen die Kritikerkollegen vom SWR herhalten, die euphorisch meinten: Das Buch „hat ein beschwingt offenes Ende. Und ist beides: hell, licht, aufwärtsstrebend und gleichzeitig wahr, tief und bezaubernd. Was will man mehr?“
Hanno Müller sieht das anders. Hoffnung? Wo denn? Zum Beweis liest Peter Henning den Schluss vor. Der muss als Silberstreif reichen.
So geht der Abend mit einigen Fragen des Publikums zu Ende. Die schönste davon: Konnte er, der Schriftsteller, seine Liebe zu den Schmetterlingen auch an die kommende Generation weitergeben? Da ist Peter Henning nun wirklich optimistisch. Und sein Publikum glaubt ihm aufs Wort, wie schön es ist, dutzende Schmetterlinge, die man zuvor zusammen durchgefüttert hat, auf einmal vom heimischen Balkon hinaus in die Welt zu schicken; all die Tagpfauenaugen und Kleinen Füchse. Hach.
Es ist diese Metamorphose, die den Schriftsteller schwärmen lässt. Sein Werk ist weit davon entfernt. Und das bedeutet etwas Gutes.
Peter Henning im Haus Dacheröden
Fotos: Uwe-Jens Igel