Michael Lüders erklärt bei Hugendubel die Folgen westlicher Politik in der arabischen Welt
Wer den Wind sät

Von Sigurd Schwager
Kein Stuhl bei Hugendubel am Erfurter Anger bleibt an diesem Abend frei, der, das legt der lange Beifall am Ende zwingend nahe, sich als mindestens so spannend erweist wie der zeitgleiche Fernsehauftritt von Bayern München und Borussia Dortmund.
Zu Gast ist erstmals in dieser Lesereihe Michael Lüders, ein auch aus unmittelbarer Anschauung exzellenter Kenner des Nahen und Mittleren Ostens – und ein scharfer Geist noch dazu. Lüders' neues Buch trägt den alttestamentarischen Titel „Wer den Wind sät“, versehen mit der Unterzeile „Was westliche Politik im Orient anrichtet“.
Diese Streitschrift über die Windsäer und den geernteten Sturm erregt einiges Aufsehen. Rupert Neudeck beschreibt das Buch so: „Das ist eine Abrechnung mit der westlichen Politik, die manchmal etwas ungerecht ist, aber immer eine Qualität erreicht: Sie ist ungeschminkt, Klartext, nicht diplomatisch und hat Verve.“ Und Neudeck kommt mit Lüders zu dem Schluss: „Die Lage ist ernst. Westliche Regierungen müssen ihre Arroganz, wir Westler das Bewusstsein ablegen, dass nur wir die Guten sind.“
Michael Lüders liest in Erfurt nicht vor, nicht eine einzige Zeile. Er hält stattdessen einen weit über einstündigen Vortrag, nimmt das Publikum mit auf eine politische Reise in die Region und durch die Welt, durch Geschichte und Gegenwart. Getrieben von gerechtem Zorn, ist Lüders das Gegenteil eines Eiferers. Beim Lesen seines Buches wie beim gesprochenen Wort erlebt man einen Aufklärer, der sich an Faktisches hält und Emotionen mit gelegentlichem Sarkasmus zügelt, dem Besserwisserei fremd ist.
„Dieses Buch", schreibt und sagt Lüders, "ist eine Abrechnung mit westlicher Politik, die gerne für sich in Anspruch nimmt, 'werteorientiert' zu handeln, im Nahen und Mittleren Osten aber vielfach verbrannte Erde hinterlassen hat.“
Wer die Konflikte der Gegenwart, darunter den Vormarsch des Islamischen Staates (IS), den Atomkonflikt mit dem Iran oder den Krieg in Syrien verstehen wolle, der müsse sich mit westlicher Politik, ihrer Einflussnahme auf die Region seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges befassen.
Der Ur-Sündenfall, das betont Lüders auch in Erfurt, sei für ihn 1953 im Iran der inszenierte Putsch gegen die demokratische gewählte Regierung Mossadegh, die es gewagt hatte, die iranische Erdölindustrie zu verstaatlichen.
Seit damals, so Lüders, habe sich das Grundmuster westlicher Interventionen in der arabisch-islamischen Welt über die Jahrzehnte hinweg im Grunde kaum verändert: Dämonisierung des geopolitischen Gegners als das Böse, als neuer Hitler gar, politischer Druck, Sanktionen, Staatsstreich.
Lüders fragt: Hat der sogenannte Krieg gegen den Terror Al-Qaida oder die Taliban geschwächt oder gar besiegt? Haben sich in Afghanistan, Irak, Somalia, Jemen, Pakistan, Libyen und Syrien, wo die USA seit 2001 militärisch intervenierten oder mit Drohnen angriffen, anschließend die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessert? Zeichnen sich Stabilität und Sicherheit ab? Gab es eine einzige Intervention, die nicht Chaos, Diktatur, neue Gewalt zu Folge gehabt hätte? Gäbe es ohne den Sturz Saddam Husseins und die amerikanische Besatzungspolitik im Irak heute den Islamischen Staat?
Und so weiter und sofort – und immer die Antwort: Nein! Zugespitzt: „Der Westen schafft sich seine terroristische Bedrohung zu einem erheblichen Teil selbst.“
Lüders, der von seiner knallharten Kritik Israel nicht ausnimmt, konstatiert, dass die Region von Algerien bis Pakistan mittlerweile einen nahezu durchgängigen Krisenbogen darstelle.
Nein, Lüders ist mit seiner komplexen Sicht der Dinge wahrlich kein Mutmacher in einer Welt in Flammen. Aber er befeuert das Nachdenken seiner Leser und Zuhörer mit Informationsdichte und Zusammenhängen.
Schlichte Antworten hat er dabei nicht zu bieten. Wo er selbst so ratlos ist wie die zahlreichen Fragesteller nach seinem Vortrag in Erfurt, gibt er das offen zu.
Sein Plädoyer an uns, seine Leser, seine Zuhörer lautet: Fangen wir mit kleinen Schritten an. (. . .) Lernen wir Demut und Bescheidenheit, bei allem Stolz auf unsere eigene Kultur. (. . .) Je eher wir begreifen, dass Millionen Menschen allein im Nahen und Mittleren Osten einfach nur zu überleben versuchen, umso leichter fällt es auch, ihnen beizustehen. Vor allem jenen, die zu uns kommen als Flüchtlinge. Helfen wir ihnen, hier Wurzeln zu schlagen, denn sie werden bleiben. Ächten wir Antisemitismus und Islamhass."
Ein ernster Abend in großer Klarheit.
Michael Lüders
Fotos: viadata