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Erfurter Herbstlese
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März 24 2018

Buenos dias, Landolf Scherzer! Der Kuba-Reisende stellt sein neues Buch zur Frühlingslese vor

Ein fernes Land so nah

Am Ende der Lesung in der Aula des Ratsgymnasiums verschenkte Landolf Scherzer sein Manuskript.
Am Ende der Lesung in der Aula des Ratsgymnasiums verschenkte Landolf Scherzer sein Manuskript.

Von Sigurd Schwager

Man kennt und schätzt sich: Scherzer und sein Erfurter Publikum. Scherzer und das chinesische Wunder, Scherzer und das andere Griechenland, Scherzer und der Rote. Nun also Scherzer und Kuba. Die Karten-Nachfrage erfordert den Umzug aus dem Dacherödschen Haus in jenes am Breitstrom, und natürlich ist auch der größere Saal randvoll mit Neugierigen.

Dass an diesem Abend der Fußballweltmeister und sein Vorgänger im Fernsehen zu besichtigen sind und das erwartet große Spiel bieten, vermag die Lese-Reihen nicht zu lichten. Buenos dias, Landolf Scherzer! Buenos dias, Kuba!

Der Thüringer Schriftsteller stellt zur Frühlingslese sein neuestes Buch vor, eine Kuba-Reportage, 367 Seiten, kleine und große Geschichten, viel Herzblut. Er liest vor, wechselt ins freie Wort, zeigt seine Fotos von der sechswöchigen Reise durch das Sehnsuchtsland so vieler Menschen mit DDR-Biografie.

Man sieht und man staunt auch ein wenig: Landolf Scherzer, der wenige Tage nach diesem Auftritt seinen 77. Geburtstag feiern wird, absolviert die temperamentvolle Lesung in Fußballspiellänge ohne Pause, ohne Sitzgelegenheit und ohne jeden Anschein von Ermattung.

Der Frühlingslese-Abend veranschaulicht einmal mehr die Stärken Scherzers, die Elena Rauch in der „Thüringer Allgemeinen“ sehr schön beschrieben hat: Wenn man seine Reportagen lese, habe man stets das Gefühl, er ließe sich ohne Plan, völlig absichtslos durch fremden Alltag treiben, ausgestattet mit einem Notizbuch und einer ahnungslosen Neugier. „Eine geschickte Perspektive, die Abstand zu ihm, den Besucher, schrumpfen lässt. Man staunt immer wieder, wie ihm Menschen und Geschichten scheinbar unbemüht zufliegen, als wäre nicht er es, der sie sucht, sondern umgekehrt ... Er ist kein Erklärer, er ist Zuhörer und Beobachter mit einer fast obsessiven Hingabe zu Details.“

Aus den Details erwächst das Ganze, das Scherzer dann in Sätze wie diese fasst: „Der gefährlichste Feind für den kubanischen Sozialismus ist der kubanische Alltag. Der beste Freund ist der Stolz der Kubaner auf ihr Land.“

Landolf Scherzer beginnt lesend mit seiner Ankunft in Havanna. Von seinem Balkon im dritten Stock blickt er auf den Cementerio Cristobal Colon, den zweitgrößten Friedhof Amerikas, mehr als 50 Hektar, fast eine Million Tote. Nach fünf Stunden Friedhofsbesuch geht er ins Bett und schläft traumlos.

Am nächsten Tag ist nichts mehr, wie es war: „Früh am Morgen will ich mein Begrüßungsritual auf dem Balkon wiederholen. Doch der Fernseher läuft schon. Auf dem Bildschirm sind die bärtigen Männer um Fidel und Che beim Marsch durch die Sierra Maestra und bei Kämpfen gegen Batistas Soldaten zu sehen. Gewehrschüsse und ‚Viva Cuba‘- und ‚Nosotros somos Fidel– Wir sind Fidel‘-Rufe.

Auf dem Tisch steht noch kein Frühstück. Und das Gute-Laune-Radio ist stumm. Und Maria und Migdalia stehen wie gebannt vor dem Fernseher, ohne mich zu beachten. Und als die Großmutter sich umdreht, sehe ich ihre verweinten roten Augen. Und als sie mich erkennt, schluchzt sie laut. Und umarmt mich. Und legt ihren Kopf schutzsuchend an meine Schulter. Und murmelt immer wieder: ‚Jesus Maria, Jesus Maria- Fidel muerto.‘“

Fidel Castro ist tot, Kuba trauert. Der Reporter erlebt ein Land, das sich ohnehin schon im Umbruch befindet, nunmehr im Ausnahmezustand.

Wer Scherzer zuhört, wer sein Buch liest, die Geschichten und Porträtskizzen, der spürt, dass ihm das ferne Land und seine Menschen nahe sind. Und der Autor stellt sich die Frage, die ihm jetzt auch das Erfurter Publikum stellt: Was, lieber Herr Scherzer, wird mit Kuba? Was wird aus Kuba? Seine Antwort: „Ich kann die Frage nicht beantworten. Ich weiß es wirklich nicht.“

Am Ende gibt es langen herzlichen Beifall für den kubanischen Seelenforscher Scherzer. Dieser wiederum vertauscht die Rollen und bittet seinerseits um eine kleine Zugabe. Das Publikum gewährt sie ihm nur zu gern. Er widmet sie dem 91-jährigen Karl-Heinz Voigt aus Erfurt.

Jahr für Jahr hat der Rentner einen kleinen Betrag für Kuba gespendet. Als seine Frau und er 2015 ihren Garten aus Altersgründen verkaufen, stiften sie die gesamte Summe, 25.000 Euro, für den Bau von Solaranlagen im kubanischen Bergdorf La Guinea, wo die Bauern noch ohne Elektrizität leben müssen. Landolf Scherzer hat auf seiner Reise das Solar-Dorf besucht, mit den Bauern gesprochen und darüber ein Kapitel geschrieben.

Dann legt Scherzer sein Buch beiseite und holt einen dicken Packen verschnürtes Papier hervor. Es sei das Manuskript von „Buenos dias, Kuba“ sagt er und geht damit zu einem älteren Herrn aus dem Publikum, der vorne rechts sitzt. Es ist der Kuba-Freund Karl-Heinz Voigt. Ihm schenkt Landolf Scherzer sein Kuba-Manuskript, und der Saal applaudiert. Bewegendes Finale eines interessanten Abends.

Daheim angekommen, holt der Berichterstatter eine ganz bestimmte CD aus dem Schrank und hört den Kuba-Reisenden Gerhard Gundermann. Fünf Minuten und 53 Sekunden „Cuba“:

Der Atlantik schlägt das Land
Bringt ihm Fisch und wäscht den Sand
So wie immer als ob er nie aufhören will ...

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