Michail Schischkin und Fritz Pleitgen denken im Atrium der Stadtwerke über Russland und den Westen nach (Teil I)
Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Verstehens

Von Sigurd Schwager
Am Abend des 15. März 2017 stellt im Alten Pfandhaus zu Köln Michail Schischkin, ein russischer Dichter von Rang, seinen nun endlich auch auf Deutsch vorliegenden Roman „Die Eroberung von Ismail“ vor. Zu dem meisterhaften Werk befragt ihn Fritz Pleitgen, unter Deutschlands Journalisten einer der bekanntesten. Da beide Russland, seine Menschen und seine Kultur lieben, diskutieren sie alsbald über das große, schöne, schwierige Land und dessen Zukunft. Die Zeit reicht bei weitem nicht aus. So viele Fragen bleiben offen. So viel mehr wüsste man gern noch von dem anderen. Also verabredet man sich und setzt den öffentlichen Gedankenaustausch privat fort.
Zwei Jahre und vier Tage nach jenem Gespräch im Alten Pfandhaus sitzen Schischkin (58) und Pleitgen (fast 81) wieder auf einer Literaturbühne. Als Gäste der Frühlingslese sorgen sie für Gedränge im Atrium der Erfurter Stadtwerke. Sie reden und streiten noch immer über Russland. Nichts hat sich seither in der Welt gebessert. Im Gegenteil.
Doch einen Unterschied zu Köln gibt es: Das Buch, über das sie jetzt sprechen und aus dem sie abwechselnd lesen, ist ihr gemeinsames Werk. Es heißt „Frieden oder Krieg“, trägt die Unterzeile „Russland und der Westen - Eine Annäherung“ und wird illustriert durch ein Foto, auf dem dunkle Wolken über dem Kreml dräuen.
Ein „Buch über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Verstehens“ nennen es im Vorwort die Autoren selbst. Ein spannendes, gerade wegen der verschiedenen Temperamente unbedingt lesenswertes Buch nennt es Sergej Lochthofen, der souveräne Moderator eines Abends, der eigentlich keinen Moderator braucht. Andererseits: der heute in der Schweiz lebende Dichter Schischkin vom Moskauer Arbat, der einstige Moskauer ARD-Korrespondent Pleitgen und der in Workuta geborene langjährige TA-Chefredakteur Lochthofen - mehr Russland-Expertise dürfte wohl schwer zu haben sein für zwei Thüringer Frühlingslese-Stunden.
Die Autoren versäumen es weder im Buch noch im Atrium, ihrer Lektorin sehr zu danken. Mit Absicht seien von ihnen – völlig unabhängig voneinander – Erfahrungen und Gedanken zum komplizierten Verhältnis Russland und der Westen zu Papier gebracht worden. Man habe weder Kompromisse machen noch sich in Besserwisserei übertrumpfen wollen. „Mit Können, Geduld und viel Einfühlungsvermögen hat Kerstin Lücker es geschafft, aus unseren Texten ein Ganzes zu machen.“ Ein sehr gelungenes Ganzes.
Michail Schischkin beginnt die Lesung in Erfurt mit einer Kindheitserinnerung an seinen Vater, der sich im Zweiten Weltkrieg mit 18 Jahren freiwillig meldet, um seinen Bruder zu rächen. Der als U-Boot-Matrose die Zeit im eisernen Sarg überlebt, und sich später Jahr für Jahr am 9. Mai, dem Tag des Sieges, die Orden anheftet, die er für das Versenken deutscher Flüchtlingsschiffe in der Ostsee erhielt. Der nach dem Krieg trinkt wie alle seine Freunde von der U-Boot-Flotte. Der sich viel später als Kriegsveteran durch Lebensmittelpakete aus Deutschland tief gedemütigt fühlt, trinkt und schreit und weint und seinen Sohn fragt: Sag, haben wir den Krieg gewonnen oder verloren? Auf diesen nur zweieinhalb ergreifenden Seiten „Das sind ja die Deutschen! Die Faschisten!“ entdeckt man die Seele eines Landes.
Ein ähnlich bewegendes Kapitel hat Fritz Pleitgen seiner Mutter gewidmet: „Den ersten Russen, der in meinem Leben eine Rolle spielte, habe ich durch die Erzählung meiner Mutter kennengelernt. Sie sprach mit ihm, aber sie erhielt keine Antwort. Sie konnte ihn auch nicht sehen. Die Umstände erlaubten es nicht. Er saß in einem Panzer. Und sie lief vor ihm her ...“
Pleitgen schlägt in Erfurt nicht die Brücke zu Schischkins Vater, sondern liest einen anderen Text, in dem er auf die Entwicklung Russlands nach 1991 blickt und dabei auf ein kostbares Gut, das auf der Strecke blieb und heute schmerzlich fehlt: die Pressefreiheit.
Dann liest noch einmal Michail Schischkin. Es ist ein schroffer Text. „In Russland liebt man starke Zaren, die schwachen mag man nicht, verehrt werden die Tyrannen und gehasst jene, die die Tyrannei mäßigen wollen. So war es mit Iwan dem Schrecklichen und Boris Godunow, so war es mit Stalin und Gorbatschow ..." In Russland laute die Alternative zur Diktatur nicht Demokratie, zu Unfreiheit nicht Freiheit, sondern Diktatur versus Anarchie, Ordnung versus Chaos. Die Ergebung, mit der das Volk seine beklagenswerten Lebensumstände und den Druck der Macht ertrage, sei der wichtigste Teil der Überlebensstrategie in Russland. „Was sich biegt, wird nicht gebrochen!“
Die Lesestunde vergeht rasch, es bleibt noch eine zweite für das Gespräch auf der Bühne und mit dem Publikum im Saal. Der Berichterstatter stimmt dem zu, was Elena Rauch darüber in der Thüringer Allgemeinen schreibt: „Wirklich gegensätzlich waren die Positionen schon deshalb nicht, weil sie nach innen blickten. Bestandsaufnahmen der eigenen Reihen, stets kritisch, oft schonungslos, manchmal schmerzhaft. Für verklärende Außenblicke auf Mütterchen Russland eine harte Probe.“
Als er auf Putin angesprochen wird, sagt Schischkin, dieser sei nicht das Problem. Er sei ein Schauspieler, der die Rolle des Zaren spiele. Es gehe um das Stück, nicht um den auswechselbaren Schauspieler. Der Dichter bemüht noch einen weiteren Vergleich, spricht von der Metro, die nur hin- und zurückfahren könne, wieder und wieder.
Das Publikum hat seine eigene Meinung. Sympathie und Skepsis sind vernehmbar. Gleich zu Beginn, als Pleitgen davon spricht, dass der Westen schwerwiegende Fehler gemacht habe, gibt es sofort den ersten starken Beifall. Das Bild von den Beziehungen zu Russland vermag an diesem Abend allerdings niemand aufzuhellen. Der allgemeine Stand der Dinge befördert eher fatalistische Gedanken. Und mehr Fragen als Antworten sowieso. Zum Glück gibt es Fritz Pleitgen, den unverbesserlichen alten Optimisten. Der schaut in den Saal und sagt, was auch das Publikum fern glauben möchte: Es ist nichts unmöglich! Auch nicht das Gute!
Und selbst Michail Schischkin kommt nicht ohne ein Gran Optimismus aus. Sein Textbaustein „Futur II“, der das Buch, ein sehr meinungsfreudiges Werk für eine mündige Leserschaft, beschließt, endet auf dem Moskauer Puschkin-Platz. Dort wird nach einer niedergeknüppelten Demonstration ein junges Mädchen von einem Korrespondenten gefragt, ob sie denn keine Angst habe. Doch, sagt sie. Und wie! Warum sie dann hier sei? Ihre Antwort: „Die da oben haben uns alles im Land genommen. Ich bin gekommen, damit sie mir meine Zukunft nicht nehmen.“
„Dieses Mädchen“, schreibt der Dichter, „ist Russlands Zukunft.“
Starkes Buch, starker Auftritt, starker Beifall.
Fritz Pleitgen und Michail Schischkin reden über Russland
Fotos: Uwe-Jens Igel