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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Dez. 05 2015

Jenny Erpenbeck stellt ihren neuen Roman „Gehen, ging, gegangen“ im Augustinkloster vor

Vom Fremdsein

Jenny Erpenbeck kam über Umwege zum Schreiben, und setzt doch eine große Familientradition fort.
Jenny Erpenbeck kam über Umwege zum Schreiben, und setzt doch eine große Familientradition fort.

Von Sigurd Schwager

Die Herbstlese ist zum Glück kein Wunschkonzert. Und doch fühlt sich der Schreiber dieser Zeilen in einem solchen. Denn die Programmierer der Herbstlese haben es geschafft, eine Frau nach Erfurt zu holen, die der Wunschgast vieler Literaturfreunde sein dürfte: Jenny Erpenbeck. Mit ihrer Sprachmächtigkeit, ihrer Sprachschönheit, ihrer Sprachbeschwörung gehört sie zu den großen Dichtern deutscher Zunge in unserer Zeit. Vielfach preisgekrönt und auch international wahrgenommen. Fast nebenbei setzt sie so eine Tradition ihrer Familie fort. Allen ist neben dem Schreiben auch das Thema Flucht geläufig. 

Nach Erfurt in das Augustinerkloster kommt sie mit ihrem neuen Roman „Gehen, ging, gegangen“, der für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert war. Großmutter: Hedda Zinner. Großvater: Fritz Erpenbeck. Vater: John Erpenbeck. Jenny Erpenbeck hat die Schriftstellertradition in ihrer Familie in beeindruckender Weise fortgesetzt. Sie wird seit Jahren von ihren Lesern und den Kritikern gleichermaßen gemocht. Ihre Romane „Heimsuchung“ und vor allem „Aller Tage Abend“ erfahren ob der hohen Erzählkunst bis heute das nahezu einhellige und nachgerade hymnische Lob der Rezensenten.

Sie ist Kritikers Liebling.

Seit dem Erscheinen von „Gehen, ging, gegangen“ gilt dieser Satz leicht eingeschränkt. Denn wohl feiern die einen das Buch als neuerlichen Beweis ihres virtuosen Erzählens, als wunderbaren, sorgfältig recherchierten Tatsachenroman über gegenseitiges Verständnis. Anderen indes scheint der Erpenbecksche „Flüchtlings-Roman“ zu sehr der Zeit auf den Leib geschrieben. Das rechtschaffene Werk ächze und stöhne geradezu unter so viel gutem Willen und Vorsätzlichkeit. Die einen entdecken zu viel Politik in dem Buch, die anderen viel zu wenig. 

„Hochaktuell!“ und „Roman der Stunde!“ – was dem einen Kritiker unbedingt buchpreiswürdig ist, bedeutet dem nächsten das preisausschließende Gegenteil.

Als Henry Bernhard, der gewohnt souveräne Moderator, in Erfurt diesen Aspekt anspricht, lächelt Jenny Erpenbeck freundlich und sagt: „Meine anderen Bücher sehen mehr wie richtige Literatur aus.“

Die Autorin beginnt ihre Lesung, in dem sie ihren Protagonisten vorstellt, den Altphilologen Richard, sozialisiert in der DDR, jetzt emeritierter Professor mit Haus am See. Jenny Erpenbeck liest den Anfang ihrer Romans, und schon allein wegen dieser Zeilen muss man das Buch mögen.

„Vielleicht liegen noch viele Jahre vor ihm, vielleicht nur noch ein paar. Es ist jedenfalls so, das Richard von jetzt an nicht mehr pünktlich aufstehen muss, um morgens im Institut zu erscheinen. Er hat jetzt einfach nur Zeit. Zeit, um zu reisen, sagt man. Zeit um Bücher zu lesen. Proust. Dostojewski. Zeit, um Musik zu hören. Er weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis er sich daran gewöhnt, Zeit zu haben. Sein Kopf jedenfalls arbeitet noch, so wie immer. Was fängt er jetzt mit dem Kopf an? Mit den Gedanken, die immer weiter denken in seinem Kopf?“

Richard hat sein bisheriges Leben verloren, inklusive der Geliebten. Aber er ist neugierig geblieben. Er interessiert sich. Das Denken hört nicht auf. Er hat Zeit, und er lernt auf dem Berliner Oranienplatz Menschen aus Afrika kennen, die auch Zeit haben, die aus der Zeit gefallen sind: Flüchtlinge. Bootsflüchtlinge. Er nimmt sich vor, sie zu befragen. Und so nimmt der Roman seinen Lauf.

Jenny Erpenbeck hat auch Gespräche mit Flüchtlingen aus Afrika geführt. Ihre Namen lesen wir am Ende des Buches. Von Hassan Abubakar bis Babshir Zaccharya. Sie sei froh, dass sie die Flüchtlinge habe sprechen und kennenlernen dürfen, sagt Jenny Erpenbeck. Nein, sie sei keine Reporterin und das Buch kein Reportage-Roman, antwortet sie auf des Moderators Frage. „Ich bin froh, dass es das Buch gibt. Es war mir ein Anliegen.“

Es handele von einer Wirklichkeit, um die wir in Deutschland lange Zeit einen Bogen gemacht haben. Die Autorin erzählt in Erfurt von den jungen Männern, ihren Gesprächspartnern, von denen viele nicht mehr da sind, verschollen. Einige leben in Deutschland noch geduldet, einige werden von Privatleuten und der Kirche durchgebracht.

In den Gesprächen, so hat es Jenny Erpenbeck zu anderer Gelegenheit formuliert, habe sie verstanden, dass das Fremdsein nicht nur ein Problem des Lebens in einem anderen Land sei, sondern sich auch die Frage danach stelle, wer man nach solchen Verlusten sei. Dass sie jenseits des Schreibens auch ganz praktisch Flüchtlingen hilft, soll hier erwähnt werden.

Jenny Erpenbeck, deren Familiengeschichte im 20. Jahrhundert auch eine Geschichte von Flucht ist, hat mit „Gehen, ging, gegangen“ – der spröde Titel zielt auf die Mühsal des Umgangs mit der fremden deutschen Sprache – natürlich kein politisches Pamphlet geschrieben. Aber das Politische bleibt dem Leser allgegenwärtig. Dass das Gesetzeswerk geändert  werden muss; das rückständige Schulsystem sowieso.

Die Scheu vor dem Fremden, vor den Fremden abzubauen, dazu lädt der Roman ein. In Erfurt sagt Jenny Erpenbeck noch einen schönen Satz aus einem ihrer anderen Bücher: „Jeder Mensch ist ein Kunstwerk.“ Kurze Pause. „Ich sehe das wirklich so.“ Das Erfurter Publikum erinnert sich dabei auch an jenen Teil der Lesung, die den Tuareg und ihrer wunderbaren Kultur galt.

Viel Beifall nach einer bewegenden Veranstaltung.

Jenny Erpenbeck im Augustinerkloster

Fotos: Holger John

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