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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Nov. 17 2022

Andrea Wulf stellt ihre fabelhaften Jenaer Rebellen in Erfurt vor

Die Erfindung des Ich

Dem Vortrag von Andrea Wulf folgte in der Buchandlung Hugendubel eine lebhafte Diskussion mit dem Publikum. (Foto: Uwe-Jens Igel)
Dem Vortrag von Andrea Wulf folgte in der Buchandlung Hugendubel eine lebhafte Diskussion mit dem Publikum. (Foto: Uwe-Jens Igel)

Von Sigurd Schwager

Geboren in Indien, aufgewachsen in Deutschland und seit Jahrzehnten in England lebend: Dieser Herbstlese-Abend gehört einer Weltbürgerin, der Autorin Andrea Wulf. Sie wird dem Erfurter Publikum ihr druckfrisches Buch vorstellen. Doch so groß die Neugier auf die „Fabelhaften Rebellen“ auch sein mag, sie muss sich noch ein wenig gedulden. Denn die warmherzigen Willkommensworte und der anhaltende Applaus sind zunächst einmal eine kleine Nachfeier der Autorin für ein älteres Buch, für jenes fabelhafte Werk, das jeder hier im Saal gelesen hat oder zumindest kennt.

Sieben Jahre ist es her, dass die deutsch-englische Kulturhistorikerin mit einer Biografie die große Literaturbühne zu erobern beginnt. Damals veröffentlicht Andrea Wulf bei John Murray in London „The Invention of Nature: Alexander von Humboldt`s New World“. Ein Jahr später erscheint die deutsche Ausgabe unter dem Titel „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“. Wie Andrea Wulf uns Heutigen vom abenteuerlichen Leben des Naturforschers und Universalgelehrten erzählt, trifft offenbar einen Nerv der Zeit. Ihr Humboldt schlägt sein Lager alsbald nicht nur in den regionalen Sachbuch-Charts auf. Er wird ein Weltbestseller, übersetzt in 27 Sprachen. Von München über London bis Los Angeles regnet es renommierte Preise.

Was Leserschaft und Juroren neben umfangreicher, sorgfältiger Recherche besonders schätzen: das Lebendige, das Unterhaltsame, das Spannungsreiche, das Zugängliche. Man wähnt sich beim Lesen mitten im Geschehen.

Einmal Humboldt-Biografin, immer Humboldt-Biografin? Als Andrea Wulf 2019 in einem Interview gefragt wird, ob es denn nicht langsam an der Zeit sei, sich von Humboldt zu verabschieden, antwortet sie, dass dieser Mann für immer etwas ganz Besonderes in ihrer beruflichen Karriere bleiben werde. Und, ja, fügt sie hinzu, es sei bald an der Zeit, sich ein paar neue Freunde zu suchen.

Drei Jahre und eine schreibend überstandene Pandemie später sind neue Freunde gesucht, gefunden und zwischen Sachbuchdeckel platziert: „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“. Man blättert darin und siehe da: Die neuen Freunde sind zu Teilen die alten. Allein Alexander von Humboldt ist im Romantiker-Register 37-mal vertreten. Gleich im Rebellen-Prolog des Buches taucht er auf: „Seit ich erwachsen bin“, schreibt Andrea Wulf, „will ich verstehen, warum wir sind, wie wir sind. Deshalb schreibe ich Bücher über Ereignisse der Geschichte.“

Bei den Recherchen zu ihrem Humboldt-Buch habe sie Antworten auf ihre Fragen im thüringischen Jena gefunden. „Hier traf Humboldt im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts auf eine Gruppe von Schriftstellern, Dichtern, Literaturkritikern, Philosophen, Essayisten, Übersetzern und Dramatikern, die, berauscht von der Französischen Revolution, das Ich in den Mittelpunkt ihres Denkens stellten. In Jena prallten ihre Ideen aufeinander und verbanden sich, und die Auswirkungen waren wie ein Erdbeben, das sich über die deutschen Staaten und die ganze Welt ausbreitete ­- und in unseren Köpfen.“

Auf dieses Erdbeben wird die Autorin bei ihrem Auftritt in der Hugendubel-Buchhandlung ausführlich eingehen. Doch zuvor bedankt sie sich für den freundlichen Empfang und sagt, dass es ihr viel bedeute, hier in Erfurt zu sein, so nah bei Jena. Für noch mehr Nähe sorgen die Buch-Helden selbst. Schließlich sind es vom Veranstaltungsort nur ein paar Schritte bis zum Hause Dacheröden. Wo heute die Herbstlese residiert, ging schon so manch fabelhafter Rebell ein und aus: Goethe und Schiller, Alexander und Wilhelm von Humboldt. Der ultimative Näher-geht-nicht-Abend erwartet Andrea Wulf auf ihrer Lesereise im März 2023 in Jenas Literaturmuseum Romantikerhaus, dem einstigen Wohnhaus von Johann Gottlieb Fichte. Jenem Philosophen, der in seiner ersten Jenaer Vorlesung verkündet, der Mensch solle sich selbst bestimmen und nie durch etwas Fremdes bestimmen lassen.

Wie bei ihrer Annäherung an Humboldt betritt Andrea Wulf auch bei den frühen Romantikern kein Brachland. Das Feld ist wissenschaftlich gut bestellt, und mehr oder minder gelungene Publikationen für das breite Publikum gibt es zuhauf. 17 engzeilige Seiten Literatur und Quellen von Alt bis Ziolkowski sekundieren die fabelhaften Rebellen. Rüdiger Safranskis großartiges Romantik-Buch darf dabei natürlich nicht fehlen.

Die Stärken der Humboldt-Biografie sind auch die des neuen Buches - auf packende Weise Geschichte zu erzählen. In ihr kommen neben vielen anderen vor: Goethe und Schiller, Novalis und Fichte, Schelling und Hegel, die Brüder Humboldt und Schlegel und die ebenso kluge wie mutige Caroline Schlegel. Ihr Satz „Ich bin gewiß umso glücklicher, je freyer ich mich weiß“ ist ein Geleitwort des Buches.

Der im Guten wie im Bösen meinungsstarke Denis Scheck verneigt sich vor den fabelhaften Rebellen und deren Schöpferin: „Ein Sachbuch, das sich wie ein fabelhafter Roman liest.“ Hingegen zieht ein Vertreter aus dem Hochfeuilleton die Augenbrauen nach oben: ein Sachbuch, das an eine Soap erinnere.

Die Autorin dürfte eine solche Kritik sehr gelassen zur Kenntnis  nehmen, vermutet der Berichterstatter. Denn während Andrea Wulf in Erfurt die Jenaer Zeit ab Mitte der 1790er Jahre gekonnt ausleuchtet, entdeckt sie nicht nur schillernden Tief- und Feinsinn, sondern auch den rohen Alltag in seinen schönen und schaurigen Schattierungen. „Es ist eben nicht nur Philosophie“, sagt sie in Erfurt, „sondern auch ein bisschen Soap Opera.“

Insgesamt gelingt ihr eine fesselnde Vorlesung, in deren Verlauf sie das Denken und Handeln ihrer Protagonisten in Wort und Bild vorstellt und erklärt, wie und warum sie der Idee des freien Ich folgen. Für etwa zehn Jahre „wurde die kleine Stadt an der Saale zum Mittelpunkt der abendländischen Philosophie - ein kurzer Augenblick im Zeitenlauf, aber der Moment, der unser Denken von Grund auf veränderte.“ Die Wirkung der Gruppe reiche ins Heute, schlussfolgert die Autorin. „Wir wissen es vielleicht nicht, aber ihre Art, die Welt zu begreifen, prägt nach wie vor unser Leben und unser Sein.“

Nach dem Vortrag nutzt das Erfurter Publikum ausgiebig die Möglichkeit, die Autorin zu befragen. Besonders die Quellen ihrer Recherchen interessieren. Woher weiß sie, was die Leute gedacht und getan haben, wie sie angezogen waren und wie es in der Stadt gerochen hat? Neben anderen Zeitzeugnissen habe sie immer wieder Briefe gelesen, erzählt sie. Briefe von den Protagonisten, aber auch von Studenten oder Besuchern der Stadt. Ein spannendes, aber mühsames Geschäft sei das gewesen.

Auch das Mehrsprachige weckt viel Neugier. „Ich schreibe und ich denke englisch“, sagt Andrea Wulf. „In England habe ich meine Stimme gefunden, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Ich fand sie in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache war.“

Sowohl die Humboldt-Biografie als auch die fabelhaften Rebellen sind nicht von ihr selbst aus dem Englischen ins Deutsche übertragen worden, sondern von Übersetzern, die sie schätzt. „Aber“, lacht sie, „ich bin wirklich ein Albtraum für Übersetzer.“ Fast an jedem deutschen Satz habe sie noch mit herumgewurstelt. Am Ende könne sie sagen: „Das ist auch meine Stimme." Bei ihrem englischen Originalmanuskript sei es auf andere Arte kompliziert gewesen. Sie habe die vielen historischen Briefzitate zunächst in deutscher Sprache belassen und in den Text eingefügt. „Sie in modernes Englisch zu übersetzen, hätte ich mir nicht zugetraut.“ Das haben andere übernommen.

Der Abend endet mit einem Brückenschlag in die Gegenwart: „Der Kreis der Jenaer Frühromantiker hat unserem Verstand Flügel verliehen. Wie und wozu wir diese Flügel nutzen, liegt ganz allein an uns.“

Viel Beifall.

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