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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 22 2013

Die Liebe gegen den Rest der Welt

Uwe Timm zeigte sich bei der Lesung im Staupitz-Saal auch als ein begnadeter Vorleser. Foto: Holger John
Uwe Timm zeigte sich bei der Lesung im Staupitz-Saal auch als ein begnadeter Vorleser. Foto: Holger John

„Wie Robinson, aber mit Handy“. Der Satz steht am Anfang des Romans, genauer, auf seiner zweiten  Seite. Er kann als Leitmotiv verstanden werden; nicht einer Person zugeordnet, sondern dem großen Thema der Literatur, der Behauptung des Schönen, des Edlen in widrigen Verhältnissen, oder, dramatischer formuliert: die Liebe gegen den Rest der Welt.

Vor den ersten Worten aus „Vogelweide“ sagt Uwe Timm, wohin die Reise geht. Er nennt  Goethes Wahlverwandtschaften, später auch Anna Karenina und die Bovary. Es sind keine Vorlagen, es sind Variationen des ewigen Streits von Liebe und Vernunft, Begehren und Versagen. Hier wird nichts transponiert, die alte Weise wird gleichsam neu komponiert.

Da ist Eschenbach, der Insulaner, der seine Geschichte erzählt. Von seiner Liebe zu Anna und von Ewald, ihrem Mann. Von Selma, mit der er zusammen ist. Von der Begierde, das ganze Leben mit Anna zu teilen, der Katastrophe und dem Neuen, die daraus erwachsen. Vom Bankrott seiner Firma und seinem Rückzug auf eine kleine Insel, von Kindern, die geboren werden.

Anspielungsreich schreibt Uwe Timm, mit vielen Querverweisen. Manche Kritik empfand dieses als zu artifiziell. Auf einer der ersten Seiten heißt es: „Strandgespräche nannten sie das, sich vom Märzwind über die Küste von Amrum treiben zu lassen oder aber gegen ihn anzugehen, miteinander reden, zuweilen wurden ihnen die Worte von den Böen vom Mund gerissen, über Shakespeare, über Muschelgeld, Tempelprostitution, Colons, über die Ibo und den Tausch von Kaurimuscheln und über die Karawanenwege des Damasts in Afrika.“

Schön, wenn auch der Leser in all diesen Themen zu Hause ist. Muss er aber nicht. Er muss auch nicht Flaubert oder Tolstoi gelesen haben, um sich am Text, an seiner Melodie zu erfreuen. Diese Melodie legt Uwe Timm frei. Er ist ein begnadeter Vorleser. Seine Stimme ist nicht laut, nicht hart; sie schmeichelt in ihrer Klarheit dem Ohr. „Prosa muss gut klingen, sie muss einen Rhythmus haben“, sagt er.

Noch etwas anderes zeigt sich bei dieser Lesung: Die Distanz des Autors zu seinem Haupthelden. Es ist kein Zufall, so später die Antwort auf die Frage eines Lesers, dass der nur einmal mit seinem Vornamen Christian angesprochen wird; sonst ist er „dieser Eschenbach“. Er habe durchaus, so Uwe Timm, überlegt, in der Ich-Form zu schreiben, es aber verworfen. Die Distanz gibt ihm so paradox es klingt die Möglichkeit zu mehr Ehrlichkeit, zu schonungsloserer Nähe.

Uwe Timm drückt es am Ende des Abends so aus: „Ich habe aufgeschrieben, wie katastrophal, wie wunderbar das mit der Liebe ist.“ Das dankbare Publikum sieht das ebenso. Langsamer als üblich leert sich der Saal, überall stehen Grüppchen und lassen den Text nachklingen. Auch beim Signieren verliert die Schlange nur langsam an Länge; mit jedem seiner Leser führt der Schriftsteller noch ein kleines Gespräch. Kurzum, ein schöner, ein intensiver, ein gelungener Abend.

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