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Erfurter Herbstlese
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Juni 08 2020

Literatur-Andacht mit Anne-Dore Krohn und Denis Scheck

Ein dreifach schmetterndes Hölderlin

Anne-Dore Krohn und Denis Scheck gaben auch im Hof des Kultur: Hauses Dacheröden alles.
Anne-Dore Krohn und Denis Scheck gaben auch im Hof des Kultur: Hauses Dacheröden alles.

Von Hanno Müller (*)

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ – Friedrich Hölderlins tröstende Verse aus der Patmos-Hymne aus dem Jahr 1803 könnten nicht passender stehen über der Freiluft-Matinee, zu der das Erfurter Kulturhaus Dacheröden am gestrigen Sonntag etwa 50 Gäste eingeladen hat. Anlass ist der Todestag des Dichters. Sein 250. Geburtstag sollte längst groß gefeiert werden – das Sars-Cov2-Virus verhinderte viele der deutschlandweit geplanten 600 Termine.

Für den Herbstlese-Verein als Hausherr ist es der Neustart nach mehrwöchigem Lockdown. Offizieller Veranstalter ist aber der Evangelische Kirchenkreis Erfurt, dessen Senior Matthias Rein Hölderlins Suche nach Gott und Glauben sowie die lebenslange Flucht vor der zugedachten Rolle als Pfarrer thematisiert. Die Veranstaltung selbst firmiert als Literatur-Andacht, der kleine Kunstgriff erleichtere die Genehmigungsverfahren, so Herbstlese-Programmchefin Monika Rettig.

Erleichterung auch bei den Literaturkritikern Anne-Dore Krohn (RBB) und Denis Scheck („Druckfrisch“, „Lesenswert“). Mit ihrer Hölderlin-Revue wollten beide in diesem Frühjahr, wie sie sagen, Größe, Glück und Unglück Friedrich Hölderlins beleuchten. Wegen Corona war nach der Premiere im Februar vorerst Schluss. Man begrüße die neue Normalität nunmehr „mit unbändiger Freude“, so Denis Scheck.

Tatsächlich passe der liturgische Rahmen der Literatur-Andacht gut, so die beiden Vortragenden, die einander eine Stunde Stichworte und Gedanken zuspielen. So zeigten nicht zuletzt die Patmos-Zeilen, wie viel Verbindung Hölderlin zum Göttlichen hatte. Der Beruf des Dichters sei für ihn ein heiliges Amt, der Dichter selbst ein Menschheitsbegleiter und Dolmetscher zwischen Menschen und Göttern gewesen. Das hohe Pathos habe allerdings die Schattenseite, dass man Texte Hölderlins gelegentlich nicht auf Anhieb verstehen könne, fügte Denis Scheck hinzu. „Dies führt in der Rezeption Hölderlins immer wieder zu einer Art aggressiven Furor. Hölderlin gewann viele Freunde, aber auch ebenso viele Feinde“, so Scheck.

Daran habe der Dichter entscheidend mitgewirkt. Erzählt wird die Anekdote von Hölderlins Besuch bei Friedrich Schiller in Weimar, zugegen damals auch Johann Wolfgang von Goethe. Hölderlin erkannte ihn nicht.

Der Tübinger sei ganz sicher kein Selbstvermarktungsgenie gewesen und auch nicht geschickt darin, sich einen Platz im Sonnenschein der literarischen Offensichtlichkeit zu sichern. Dass Goethe ihn und auch Kleist regelrecht unterdrückt habe, stimme aber ungeachtet des falsch geschriebenen Namens „Hölterlein“ nicht. Zu den viel diskutierten Thesen des Franzosen Pierre Bertaux, Hölderlin habe fast vier Jahrzehnte Wahnsinn im Turm zu Tübingen nur vorgespielt, um damit einem Hochverratsprozess zu entgehen, liefern die Kritiker in ihrer Revue für- und widersprechende Argumente.

Die Vereinnahmung Hölderlins durch die Nazis bezeichnen Krohn und Scheck als „besonders schweinisch“ und absoluten Missbrauch. Die 1936 gebaute und mit Worten des Dichters dekorierte Langemarckhalle im Berliner Olympiastadion sei eine Obszönität.

Interessant finden sie auch die Rezeption Hölderlins in der DDR. Einerseits sei er von staatlichen Obrigkeit für den Sozialismus reklamiert worden, andererseits hätten sich Dissidenten dergestalt auf ihn berufen, dass man ja angesichts der Zustände den Verstand verlieren musste. Diese „oszillierende Janusköpfigkeit“ sei letztlich in die Figur Friedrich Hölderlins eingeschrieben und mache sie bis in die Gegenwart lebendig.

Am Ende schmettert ein dreifaches Hölderlin durch den Hof des Hauses Dacheröden, welches damit ab morgen auch wieder ganz regulär seine Pforten für den Publikumsverkehr öffnet.

(*) Hanno Müller ist Redakteur der „Thüringer Allgemeine“. Sein Beitrag erschien zunächst am 8. Juni im Feuilleton der Zeitung.

Ein dreifach schmetterndes Hölderlin

Literatur-Andacht würdigt Hölderlin

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