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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Sept. 16 2017

Tradition und Neuanfang – das Literarische Quartett lud zum ersten Mal in das Kultur: Haus Dacheröden ein

Gelungener Start in die 21. Herbstlese

Wie n den Vorjahren ging es beim Quartett ungeachtet aller unterschiedlicher Meinungen auch wieder recht heiter zu.
Wie n den Vorjahren ging es beim Quartett ungeachtet aller unterschiedlicher Meinungen auch wieder recht heiter zu.

Es ist angerichtet, schreibt Hanno Müller in der „Thüringer Allgemeinen“. Und so viel ist nach dem traditionellen Herbstlese-Auftakt mit Krimipfarrer Felix Leibrock und seinen Kritiker-Gästen gewiss: Auch die 21. Auflage des Lesemarathons verspricht wieder Abwechslung, Anregungen und Spannung.

Ausgesucht hat sich die Runde für ihren launigen Schlagabtausch einen Roman, ein Sachbuch sowie zwei eher persönlich-biografische Titel - wobei die Grenzen bei Letzteren schon mal verschwimmen. Vier Kritiker, vier Meinungen? Tatsächlich fliegen im Verlaufe des Abends immer wieder die Fetzen, die aber nicht selten in trauter Eintracht.

Der literarische Stoff kommt vom Schriftsteller Ingo Schulze. Politikwissenschaftler Dietmar Herz, wohlgemerkt im Westen sozialisiert, spricht dessen Roman "Peter Holtz" Qualitäten irgendwo zwischen Grimmelshausen und Brecht zu - mit Tendenz mehr zu Brecht. Erzählt wird die Geschichte eines Heimkindes, dass mit seiner naiv-schelmischen, absoluten Gläubigkeit an den Sozialismus selbst hartgesottene Funktionäre und Stasileute düpiert.

Herz' schwärmerisches Loblied über Schulzes adäquaten Blick auf die DDR der 1970er- und 1980er-Jahre stößt bei Dirk Löhr, wohlgemerkt im Osten sozialisiert, auf Widerspruch. Er habe sich wegen so viel Holtzscher Dummheit fremdgeschämt. So wie im Roman sei es nie gewesen und hätte es auch nie funktioniert. Und obwohl dass keiner der vier so recht eingestehen will, lassen auch Gehler und Leibrock erahnen, dass es wohl nicht ganz unerheblich ist, ob man Schulzes Buch mit oder ohne DDR-Erfahrung liest. Was die Runde freilich nicht daran hindert, es einhellig als lesenwert zu empfehlen.

Wie unterschiedlich ein Buch gelesen werden kann, zeigt auch der Wortwechsel zu Hannelore Hogers Erinnerungen "Ohne Liebe trauern die Sterne". Autobiografie oder nicht - schon da gehen die Meinungen zu den mit Interviews angereicherten Reminiszenzen auseinander. Mit der gleichen Leidenschaft, mit der sich Leibrock über Belanglosigkeiten zu den Hunden der Schauspielerin und "Bella Block"-Darstellerin echauffiert, huldigt Gehler eben diesen - wie er findet - sehr intimen Einblicken in ein großes Künstlerleben und dem damit verbundenen Lesegenuss.

Dietmar Herz liest die Erinnerungen sogar als Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts, mit der die Hoger ihm nicht zuletzt völlig neue Perspektiven auf Größen wie Peter Zadek, Alexander Kluge (lange Hogers Lebensgefährte) oder den Amerikaner Lee Strasberg ermöglicht habe.

Etwas Schärfe kommt in die Diskussion, als Dirk Löhr der einen wie der anderen Lesart Unterlauterkeit unterstellt. Das Buch sei weder nur gut noch nur schlecht, ohnehin gebe die Hoger kaum Geheimnisse preis.

Überwiegend freundlich dann die Bewertung von Wilhelm Schmids "Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers". Dass ein Philosoph in einer Klinik arbeitet und dort Kranken und Sterbenden zuhört, finden alle vier überwiegend gut.

Den streitbarsten Text zum Abend steuert der Göttinger Islamexperte Bassam Tibi mit seinem Buch "Islamische Zuwanderung und ihre Folgen" bei. Wer den gebürtigen Syrer kennt, weiß um dessen polarisierende Thesen und Eitelkeiten.Diese finden in der Herbstleserunde ebensowenig Gnade wie die vom Autor beanspruchte - und mit reichlich Verbalattacken gespickte - Deutungshoheit über die Flüchtlingskrise. So bleibe Tibi für seinen Vorwurf, von der NS-Zeit-Schuld geprägte Gutmenschen würden sich gerade von der Islamisierung einlullen und überwältigen lassen, jeglichen Beleg schuldig.

Vier Kritiker, eine Meinung? Wer sich hier gerne selbst ein Bild machen möchte, hat dazu Gelegenheit am 10. November. Für die Lesung mit Bassam Tibi gibt es noch Restkarten. Dass mit Dietmar Herz einer der Tibi-Kritiker aus der Auftakt-Runde als Gesprächspartner bereitsteht, verspricht einen kontroversen Abend.

Dieser Artikel erschien am 15. September 2017 im Feuilleton der „Thüringer Allgemeine“. Im Internet ist der Artikel hier zu finden.

Literarisches Quartett 2017 im Kultur: Haus Dacheröden

Fotos: Holger John

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