Christoph Hein stellt seinen neuen Roman „Glückskind mit Vater“ in Erfurt vor
Im Sog von großer Erzählkunst

Von Sigurd Schwager
Christoph Hein, einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart, ist mit seinem neuen Roman Gast der Frühlingslese. Großartig! Eingeladen wird, da gibt es keine zwei Meinungen, zum literarischen Höhepunkt der Frühlingslese 2016.
Doch ehe wir uns diesem Ereignis zuwenden, sei ein Prolog gestattet. „Sehr geehrter Christoph Hein, lieber Vater!“ In einem anrührenden Zeitungsbrief hat Jakob Hein vor zwei Jahren seinem Vater Christoph Hein zum 70. Geburtstag gratuliert. Darin findet sich auch eine schöne Kurzbiografie:
„Du bist in Schlesien geboren, in Sachsen aufgewachsen, bist in Westberlin zum Gymnasium gegangen (Griechisch, Latein), hast nach dem Mauerbau das Abitur aber in Ostberlin gemacht (Russisch), warst Kellner in einer Nachtbar, Regieassistent, Buchhändler und bist studierter Philosoph. Dein Vater war ein charismatischer Pfarrer („Evangelisch oder katholisch?“, fragte mich mal ein Journalist an Deinem Telefon), Du hast fünf Geschwister, von denen eine sogar rübergemacht hatte. Deine Bücher waren verboten, die Stasi hörte uns ab, und so weiter und so fort. Kein Wunder, dass Du aus Deiner an Brüchen und erlebter Zeitgeschichte reichen Biografie große literarische Stoffe weben kannst."
Etwas später wird der stolze Sohn, inzwischen selbst ein erfolgreicher Schriftsteller, allerding etwas melancholisch und klagt: „Trotz Deiner mitteleuropäischen Biografie und Deiner zeitlos konsequenten Haltung gegenüber Ideologien und für ein von Aufklärung und Logik geprägtes Bild der Welt, trotz Deiner kontinuierlichen Ferne von der Macht und anderen Moden der Zeit, trotz alledem giltst Du aus mir nicht erklärlichen Gründen als Schriftsteller eines Staates, an dessen Untergang Du nicht ganz unbeteiligt warst.DDR-Schriftsteller‘ ist ein Terminus, der den meisten weiterhin leicht über die Lippen geht. Du hast über die RAF geschrieben und über Rechtsradikale, über prekäre Akademiker unserer Zeit und die Erosion des Rechtsstaats – für zu viele bleibst Du ein DDR-Schriftsteller. Im Ausland halten sie Dich für einen deutschen Schriftsteller, als der Du eingeladen und ausgezeichnet wirst. Aber in Deutschland halten Dich viele für einen Ostler, was so absurd ist, dass es schon wieder nicht mehr lustig ist.“
Das mag alles stimmen. Aber so wie Jakob Hein immer der Sohn von Christoph Hein bleibt, wird dieser, der natürlich weit mehr als ein literarischer Chronist der DDR ist, immer mit seiner ostdeutschen Vergangenheit verbunden sein. „Der fremde Freund“, 1982, „Horns Ende“, 1985, „Der Tangospieler“, 1989, oder auf der Theaterbühne „Die Ritter der Tafelrunde“, 1989. Wer immer heute über die späte, verdämmernde DDR und ihre künstlerische Wahrnehmung spricht, kommt um Werk und Wirkung von Christoph Hein nicht herum.
Nach dem Mauerfall ist sein klarer kühler Erzählstrom nicht versiegt. Im Gegenteil. Lange und kurze Prosa, Theater und Film. Die Romane „Weiskerns Nachlass“ und „Frau Paula Trousseau“ sind dabei nicht nur als Bücher gegenwärtig. Das DNT Weimar hat aus beiden im E-Werk starke Inszenierungen gemacht.
Christoph Heins jüngster Roman, den er in der dichtgefüllten Aula des Erfurter Ratsgymnasiums vorstellt, heißt „Glückskind mit Vater“. Wie der Sprachstil, der ruhige, sachliche Erzählton, so die Lesung selbst: Ein Tisch, ein Stuhl, eine Lampe, ein Mann, ein Buch, eine Stimme. Show gibt es woanders. Das Publikum erlebt hier gewissermaßen die puristische Essenz, den Kern, das Wesen der Lesereihe: Es geht um Kunst, um den Dichter und das Gedichtete.
"Glückskind mit Vater“ handelt vom Leben des Konstantin Boggosch, der in der DDR als Sohn eines NS-Verbrechers aufwächst. Als der Vater 1945 in Polen gehenkt wird, ist er noch nicht geboren. Aber der Vater bleibt in seinem Leben präsent. Benachteiligungen sind seine ständigen Begleiter durch das Leben. Die Literaturkritik ist sich, mit wenigen Ausnahmen, einig: ein großer Wurf von Christoph Hein. Eine Deutschlandchronik über die Unmöglichkeit, sich der Geschichte zu entziehen. Ein Wilhelm-Meister-mäßiger Roman, ein zeitgenössischer Schelmen-, ein Bildungs-, ein Abenteuerroman. Ein altmeisterliches Panoramagemälde.
Christoph Hein liest in Erfurt eine gute Stunde ohne Pause aus seinem 500-Seiten-Opus. Nein, der Schriftsteller ist kein herausragender Vortragskünstler seiner selbst. Aber je länger er liest, desto mehr gerät das Publikum in den Sog seiner großen Erzählkunst.
Man möchte, nachdem der starke Applaus verklungen ist, am liebsten gleich den Roman zur Hand nehmen und weiterlesen.
Christoph Hein in der Aula des Ratsgymnasiums
Fotos: Viadata