Karl Kraus und Walter Ulbricht
Seit es die Herbstlese gibt – man ist inzwischen in der 17. Saison angelangt – gilt eine eiserne Regel: Lade keinen Autor zweimal hintereinander ein. Sie fußt auf zwei Gründen. Erstens soll das Programm abwechslungsreich sein, eine Wiederholung steht dem per Definition entgegen. Zum andern zeigt die Erfahrung, dass es das Publikum nicht wirklich goutiert, bekannten Gesichter allzu schnell erneut zu begegnen; Gäste des Festival haben es bei einer übereilten Rückkehr entschieden schwerer, ihr Publikum zu erreichen.
Natürlich kennt diese eiserne Regel eine nicht minder eherne Ausnahme: Hellmuth Karasek. Der Kritiker und Autor war inzwischen so oft in Erfurt, dass es des in der Stadt befindlichen Bundesarbeitsgerichtes nicht bedürfte, um sich für immer in die Lesereihe einzuklagen. Seine Beliebtheit hier ist ungebrochen, wenn auch sein Name in der Geschäftsstelle leichtes Schauern hervorruft; der Andrang für seinen Abend war es, der das Ticket-Programm der Herbstlese im vergangenen Herbst schmählich abstürzen ließ. Das passierte dieses Jahr zum Glück nicht, die Karten für seine Lesung im Atrium der Stadtwerke waren aber wieder mit als erste ausverkauft.
Die Treue seines Erfurter Publikums ist leicht zu erklären. Es sind entschieden unterhaltsame Abende die er bietet, voller Witz, und doch mit Anspruch. Lesungen, bei denen viel erzählt wird, über Literatur und Leser, Anekdoten sind zu hören und – ja – Witze.
Nun lebt dieses Genre ja vor allem von einer Sache, der Pointe. Doch je älter man wird, entschleiern sich Muster. Das bedeutet für den Erzähler zweierlei. Er muss seine Witze zum einen immer wieder renovieren, den Ort und die Personen der Zeit anpassen. Und, fast wichtiger noch, ein guter Witz muss gut erzählt sein.
Hellmuth Karasek beherrscht dies wie kaum ein anderer. Er bringt in Erfurt kurz nach dem Anfang einen Ulbricht-Witz, einen Klassiker, möchte man meinen. Doch das Lachen der Leute zeigt: Entweder kannten sie ihn nicht oder, was ebenso möglich ist, haben ihn vergessen.
Der Witz geht so: Lotte hat Geburtstag. Walter fragt: Was wünschst du dir? Sie antwortet, mach doch bitte für einen Tag die Mauer auf. Darauf Ulbricht: Du Schäker, du willst doch nur mit mir alleine sein.
Doch es geht nicht nur um Witze an diesem Abend, es geht um die Fährnisse der Lesereisen, die Hellmuth Karasek seit Jahrzehnten absolviert; all die Geschichten um schlafende Zuhörer, Bitten um merkwürdige Widmungen, das Leben auf der Bahn, das ganze Hin und Her.
Und es geht um die Glosse, die Königsdisziplin des journalistischen Handwerks. Obwohl kurz an Text darf die Erkenntnis für den Leser nicht zu klein bemessen sein. Das macht die Glosse dem Witz ähnlich, ohne Verstehen geht nichts. Sie wird in ihrem Anspruch so nur vom Aphorismus übertroffen. Gute Glossen, Texte, die sich trauen, sind indes zur Mangelware geworden, vom Aussterben bedroht. Nur noch weniges Druckwerk betätigt sich heute als Rote Liste.
Hellmuth Karasek traut sich, und gar nicht zu knapp. Erst führt er seine Vorbilder ein – Johann Peter Hebel und Alfred Polgar – dann liest er eigene Zeilen vor. Sie kommen beim Publikum bestens an.
Es ist ein vergnüglicher Abend, mit Anleihen bei Bertolt Brecht hier und Verweisen auf Karl Kraus da. Es ist die Show eines Mannes, der unendlich viel gelesen hat, und sich des Besten daraus erinnert und bedient. Sehr zur Freude der Menschen im Saal.
So kommt es zum Letzten, einer Zugabe. Danach sitzt er fleißig am Tisch und signiert. Immer wieder hört er dabei: Hoffentlich sind sie bald wieder hier. Das wird er, eiserne Regel hin oder her.