+49 361 644 123 75
Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Nov. 05 2022

Claudia Michelsen liest Erinnerungen an und von Marlene Dietrich

„O lieb so lang du lieben kannst“

Mit Texten von und über die Dietrich begeisterte Claudia Michelsen das Herbstlese-Publikum in Erfurt. (Foto: Stefan Klüter)
Mit Texten von und über die Dietrich begeisterte Claudia Michelsen das Herbstlese-Publikum in Erfurt. (Foto: Stefan Klüter)

Von Sigurd Schwager

Am Ende des Abends gibt es für Claudia Michelsen in der Erfurter Oper neben dem großen Beifall noch ein kleines thüringisches Fünf-Sterne-Lob: „Hat se gut gemacht, ge!“, sagt im Parkett hinter dem Berichterstatter halblaut ein Mann zu seiner Sitznachbarin. Derweil ist die Stimme von Marlene Dietrich zu hören. Sie singt Pete Seegers Antikriegshymne. „Sag mir, wo die Blumen sind / Wo sind sie geblieben? / Sag mir, wo die Blumen sind / Was ist gescheh`n ?...“

So wie das Lied heißt auch das Programm, mit welchem Claudia Michelsen, eine der besten und gefragtesten Schauspielerinnen des Landes, seit geraumer Zeit die Säle füllt. Man kennt und schätzt sie nicht nur als Kudamm-Tanzschulchefin Schöllack oder Magdeburger Kriminalhauptkommissarin Brasch. Ihr Rollenspektrum ist beträchtlich und vor allem eindrücklich.

Heute, auf der Erfurter Theaterbühne, die ihr allein gehört, trägt sie einen dunklen Hosenanzug und das Haar streng. „Guten Abend! Wie toll: ein volles Haus!“ Als ihr dieses Projekt angetragen worden sei, erzählt sie, habe sie gedacht, schon viel über Marlene Dietrich zu wissen. „Doch beim Lesen habe ich dann gemerkt: Ich weiß von ihr ganz viel gar nicht.“

Zwei Stunden später wird das Publikum wissen, dass sie längst ganz viel weiß und nicht zu viel versprochen hat mit ihrem Wunsch „Haben Sie viel Spaß!“ Gleichwohl ist dieser Spaß ein eher puristischer. Kein Marlene-Foto, schon gar keine bewegten Bilder. Kein blauer Engel und keine Zeugin der Anklage. Nur die Stimme dieser Ikone des 20. Jahrhunderts weht zweimal durch den Saal: mit Lili Marlen in der Pause und den Blumen als Abspann. Ansonsten gilt das gelesene Wort.

Es baut auf die gediegene Vortragskunst von Claudia Michelsen, ihre stimmlichen, mimischen und gestischen Nuancen. Aus Autobiografischem von Marlene Dietrich und Erinnerungen an sie von Tochter Maria Riva oder Regisseur Josef von Sternberg und vielen anderen sowie einigen Zeitungsbeiträgen entsteht eine plastische Collage, die aber angesichts der Fülle des Materials bei aller Eindringlichkeit fragmentarisch bleiben muss. Gelegentlich wären Vorkenntnisse nützlich, um in Raum und Zeit bei wechselndem Personal beim Zuhören die genaue Übersicht zu bewahren.

Eine lockere Chronologie dient als Wegweiser für die Lebensreise der Marie Magdalene Dietrich, geboren 1901 in Schöneberg im heutigen Berlin. Die behütete, großbürgerliche Kindheit und die frühe Liebe zu Frankreich, die sich im Ersten Weltkrieg zeigt. Nach der Schule 1920 der Umzug nach Weimar, wo sie eine Ausbildung als Konzertgeigerin beginnt. Rückkehr nach Berlin. Ehe mit Rudolf Sieber, die trotz aller Affären bis zu dessen Tod 1976 halten wird. Theater, Stummfilme, Karriere-Durchbruch als Lola im „Blauen Engel“ und Weltenwechsel nach Amerika, wo sie zum Hollywood-Star aufsteigt und dort in den einschlägigen Charts bis heute als eine der 25 größten weiblichen Filmlegenden aller Zeiten gilt.

Im Zweiten Weltkrieg singt die entschiedene Nazi-Gegnerin für alliierte Soldaten und Verwundete in Lazaretten. Nach dem Krieg bleibt sie auf der Leinwand präsent, tritt aber überwiegend als Sängerin auf. Schließlich, Ende der 70er Jahre, zieht sie sich ganz aus dem Showgeschäft zurück, lebt bis zu ihrem Tod am 6. Mai 1992 zurückgezogen in Paris.

Claudia Michelsen besichtigt in Erfurt lesend Glanz und Elend eines Freigeistes, einer starken Frau und umschwärmten Diva mit zahllosen Affären und ebenso ungezählten Stunden der Einsamkeit. Freiligrath lässt grüßen: „O lieb so lang du lieben kannst". Überhaupt ist dieser Abend einer, bei oder nach dem man die eigenen Gedanken treiben lassen kann.

Zum Beispiel zu Maximilian Schells wunderbarem Dokumentarfilm „Marlene“, in dem sie viel von sich erzählt, ohne selbst im Bild zu erscheinen. „Ich bin zu Tode fotografiert worden“, klagt sie im Gespräch dem Schauspielerkollegen, mit dem sie das „Urteil von Nürnberg“ gedreht hat. Selbiger Film von 1961 erlebt 2019 noch einmal seine Aufführung in Erfurt anlässlich der Ausstellung „Marlene Dietrich. Die Diva. Die Haltung. Und die Nazis“ im Erinnerungsort Topf & Söhne.

Und was den von Claudia Michelsen beleuchteten Weimarer Aufenthalt der jungen Marlene betrifft, so erinnert sich der Berichterstatter noch gut daran, wie Politiker zu Kulturstadtzeiten versprachen, dem Marlene-Gedenken ein wenig Raum zu schaffen am originalen Ort im Haus der Frau von Stein. Vorbei und vergessen. Wenigstens hat Weimar wie Berlin oder München eine Marlene-Dietrich-Straße.

Jetzt Artikel bewerten!

  • 0 / ø 0

0 KommentareNeuen Kommentar schreiben

  • Bisher wurden noch keine Kommentare geschrieben

Allgemein

Erfurter Herbstlese ist verantwortlich für die Moderation und das Löschen von Kommentaren.

Bitte beachten Sie unsere Netiquette.

Alle Kommentare werden, bevor sie erscheinen, von einem Moderator bzw. einer Moderatorin geprüft.

Datenschutz

Unsere Datenschutzerklärung beschreibt, wie Ihre persönlichen Daten erfasst und verarbeitet werden.

Neuen Kommentar schreiben

Bitte melde Dich an, um einen Kommentar zu schreiben.

Über uns

Erfurter Herbstlese e.V. - Es lebe die Erfurter Herbstlese!

Unser Literaturverein organisiert seit 1997 die Erfurter Herbstlese, die zu den großen literarischen Veranstaltungsreihen in Deutschland gehört. Es lebe die Erfurter Herbstlese!

Öffnungszeiten

  • Kultur: Haus Dacheröden:
    Di bis Fr: 12.00 - 17.00 Uhr
    Sa: 10.00 - 17.00 Uhr
    Telefonische Erreichbarkeit:
    Mo - Fr: 09.00 - 17.00 Uhr
    Sa: 10.00 - 17.00 Uhr

Unsere Partner & Sponsoren

Gefördert durch