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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
April 30 2023

Matthias Brandt und Jens Thomas treffen E.T.A. Hoffmann und Neil Young

Schaurig schöne Reise durch die Nacht

Düster, schaurig, schön: Matthias Brandt und Jens Thomas sorgten bei der Frühlingslese wieder einmal für einen unvergesslichen Abend. (Foto: Mathias Bothor)
Düster, schaurig, schön: Matthias Brandt und Jens Thomas sorgten bei der Frühlingslese wieder einmal für einen unvergesslichen Abend. (Foto: Mathias Bothor)

Von Sigurd Schwager

Was für eine Besetzungsliste in der Erfurter Oper! Angekündigt sind am vorletzten April-Abend zwei Meister ihres Fachs: der Schauspieler Matthias Frederik Brandt, geboren 1961 in Westberlin und der Musiker Jens Thomas, geboren 1970 in Braunschweig. Treffen werden die zwei auf der Bühne den Star der schwarzen Romantik Ernst Theodor Amadeus (Wilhelm) Hoffmann, geboren 1776 in Königsberg und den rebellischen Romantiker Neil Percival Young, geboren 1945 in Toronto. Die Frühlingslese hat da ein Golden Spring Quartett aufgeboten, welches den Großen Saal natürlich mühelos zu füllen vermag.

Bereits seit einem Jahrzehnt arbeiten die Künstlerfreunde Brandt und Thomas zusammen. Dabei gelingen ihnen immer wieder fabelhafte Wort-Musik-Collagen, mit denen sie in den großen Häusern des Landes die Fangemeinde regelmäßig zu Applaus-Orgien treiben. Das hiesige Opernhaus durfte dafür schon mehrfach Hör- und Schauplatz sein.

Umso erfreulicher, dass sie nun auch mit ihrem jüngsten Projekt in Erfurt gastieren. Was zur Aufführung gelangt, ist wahrem Geschehen aus alten Zeiten abgelauscht: Ende des 17. Jahrhunderts verunglückt im schwedischen Falun ein junger Bergmann am Tage vor seiner Hochzeit. Die Grube wird sein Grab. 50 Jahre später gibt die Mine den durch Vitriol-Dämpfe konservierten Leichnam zurück. Er kommt ans Licht und die greise Braut schließt ihren jungen toten Bräutigam in die Arme. Dann zerfällt sein Körper zu Staub. Und auch sie stirbt.

Viele Künstler haben sich von der abgründigen Liebestragödie zu eigenen Werken inspirieren lassen. E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Die Bergwerke zu Falun“ aus dem Serapionsbrüder-Zyklus gehört dabei zu den bekanntesten literarischen Bemühungen. Man darf das Ergebnis einen der schönsten und schaurigsten Texte der deutschen Romantik nennen. Was Matthias Brandt und Jens Thomas an dieser fantastischen Geschichte reizt? Eine ihrer Antworten, nachzulesen im Netz, lautet: Hoffmanns Interpretation der Sage von Elis Fröbom und seiner Braut Ulla gleiche einer Reise durch eine Nacht des Realitätsverlusts, an deren Ende das Erwachen in ewiger Liebe stehe.

Entsprechend zeigt schon der erste Erfurter Eindruck einen in die Nacht verliebten Abend. Wo der Urvater der Gruselgeschichte das Wort führt und das Unheimliche, das Gespenstische latent ist, wird auch die Bühne weitgehend ins Dunkle getaucht. Gerade noch kann man den Mann am Klavier und den Mann am Lesepult erkennen. Das wird kein Fest für die Augen. Auf das Zuhören kommt es die nächsten anderthalb Stunden an. Und auf das Kopfkino sowieso.

An den Tasten und oft über sie hinaus sowie mit seiner Stimme und deren Akrobatik liefert Thomas mehr als nur den Sound für Brandts reduziert eindringlichen Vortrag von Hoffmanns Erzählungen. Das eine lenkt hier nie vom anderen ab, sondern führt immer wieder zu ihm hin. Dass der Komponist, Jazz-Pianist und Stimmperformer im schwedischen Bergwerk auch Neil Young spielt und singt, macht den Abend zusätzlich sehr speziell. Und vor allem: Es funktioniert. Ziemlich gut sogar, bestätigt gern der Berichterstatter in seiner Rolle als eherner Neil-Young-Fan. „Rock and roll can never die“ tanzen Ulla und Elis aus Falun mit Johnny Rotten in Erfurt. Sie suchen nach dem „Heart of Gold", begegnen jenseits des Ozeans „Cortez the Killer“, dem blutigen Eroberer des Aztekenreichs. Sie leiden und wir mit ihnen: „Helpless, helpless, helpless...“

Nicht alles, aber einiges davon findet sich wieder auf dem frischen Thomas-Album „Neil Young Collage“. Zwölf Titel, neun Songs von Young, dazu noch „Cortez the Killer“ als Reprise, sowie zwei eigene Kompositionen. Jens Thomas mag nicht erst seit heute Neil Young. In seinem aktuellen Buch „Zuhören!“ widmet er ihm einen eigenen Text.

Doch nichts von dem, was in Erfurt oder auf der CD zu hören ist, erinnert an eine musikalische Andacht. Der Begriff Collage, schreibt Thomas, bedeute für ihn, mit den vorgefundenen Songs und Texten von Neil Young „herumzubasteln“ und zu neuen, eigenständigen Lösungen zu kommen. Nähe durch Ferne, auseinandernehmen und neu zusammensetzen, ohne dabei den Gehalt des Originals aufzugeben, gar zu beschädigen – ein Prinzip, das ebenso für die Falun-Collage gilt.

Matthias Brandt trifft Jens Thomas und E.T.A. Hoffmann Neil Young. Was für ein trefflicher Einfall! Was für ein treffliches Ergebnis! Ovationen wie immer für einen traumhaften Abend und für Monika Rettigs Blanko-Einladung zum B&T-Wiedersehen in Erfurt mit ihrem nächsten Projekt.

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