Wahrheit oder Lüge
Wie wird man Schriftsteller? Vertreter dieser Berufsgruppe, erfolgreiche in Sonderheit, bekommen diese Frage immer wieder gestellt. Håkan Nesser, höchst produktiver Star der hierzulande äußerst beliebten skandinavischen Kriminalliteratur, hat eine schlichte Antwort parat: Lesen. „Du musst erst 1000 Bücher lesen, bevor du eins schreiben kannst“, erklärt er fröhlich bestimmt der proppenvollen Aula des Erfurter Ratsgymnasiums. Dann setzt er sogar noch einen drauf. „Leben ist wichtig, aber lesen ist wichtiger.“
Die Gäste der Erfurter Frühlingslese verstehen das, sind sie, eigene Ambitionen nicht ausgeschlossen, zunächst das, Leser. Nesser hat sie in den vergangenen Jahren gut versorgt. 26 Bücher hat er bereits vorgelegt. Allein zehn davon aus der Van-Veeteren-Reihe, fünf Bände lang ermittelt sein Kollege Kommissar Gunnar Barbarotti.
Jetzt ist er auf dem Weg nach Leipzig. Auf der Buchmesse stellt er sein 27. Werk vor. Es heißt „Der Himmel über London“ und ist – kein Krimi. Zuvor macht er aber noch in Erfurt Station - und ist begeistert. Beim Spaziergang hat es ihm die Stadt angetan. Wie auch seinen Begleitern. „Die Krämerbrücke“, schwärmt Walter Kreye, der den Part des deutschen Vorlesers übernimmt. „Die Schokolade“, fügt Margarete von Schwarzkopf hinzu, die moderiert und übersetzt.
Also kein Krimi. Mehr ein Spionageroman und einer über die Liebe, eine Familiengeschichte und eine Hommage an eine Stadt: London. 1966 war es, als der 16jährige Håkan nach London kommt und sich in die Stadt verliebt. Eine wilde Zeit, diese Swinging Sixties, zumal für einen jungen Mann aus Kumla/Schweden, dessen Heimatstadt als größte Attraktion „das beste Gefängnis des Landes“ vorhält.
Wie Håkan Nesser verbringt Leonard Vermin eine schöne, vielleicht die schönste Lebenszeit an der Themse, die Zeit der Jugend und der Liebe. Wie sein Autor kehrt er Jahrzehnte später zurück, der eine zum Schreiben, der andere stirbt. Beide blicken zurück auf die wesentlichen Dinge im Leben und in der Literatur, auf Liebe und Tod, Wahrheit und Lüge. Und wie der Schriftsteller weiß sein Protagonist: „Wir erkennen die Dinge erst richtig, wenn es zu spät ist.“
Als Margarete von Schwarzkopf diesen Satz übersetzt, ist der Abend schon fortgeschritten. Walter Kreye hat wunderbar vorgetragen, den Anfang des Buches und die Passage, in der Leonard auf Carla trifft. Jetzt, in der Mitte des Buches, ab Seite 247, erhält die Geschichte eine neue Ebene: Der Auftritt des Literaten. Ab jetzt wird es im Roman immer komplexer, im Saal vergnüglicher; voller Verheißung präludiert des Kapitels erster Satz: „Lars Gustav Seléns Vater war ein einzigartiger Lügner.“
Das ist etwas, was Håkan Nesser aus seiner Familie kennt. Sein Vater war so einer, erzählt er vergnügt, die Geschwister, seine Onkels, nicht minder. „Für meinen Vater war eine gute Geschichte wichtiger als die Wahrheit“, lacht der Schriftsteller. Ein bisschen klingt das nach Programm, wenn er meint: „Vertraue keinem Autor!“
Was also ist davon zu halten, dass Nesser noch Stoff „für zwei, drei Bücher“ im Kopf hat? Nicht allzu viel, in zehn Jahren werden es wohl ein paar mehr geworden sein. Im Herbst erscheint schon das nächste, zuvor zieht es den Schweden nach Berlin. Dort soll nach New York („Die Perspektive des Gärtners“) und London der dritte Metropolen-Roman entstehen.
Das Publikum wird es freuen. Denn ohne Bücher ginge die Maxime des Schriftstellers nicht auf: Also: „Leben ist wichtig, aber lesen ist wichtiger.“