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Erfurter Herbstlese
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Okt. 17 2020

Valerie Schönian, Steffen Dobbert und das Ostbewusstsein - Rückblick I

Ex oriente polylux

Die beiden Protagonisten mit Moderatorin Romy Gehrke auf der Bühne des Erfurter Ratsgymnasiums.
Die beiden Protagonisten mit Moderatorin Romy Gehrke auf der Bühne des Erfurter Ratsgymnasiums.

Von Sigurd Schwager

 

Dieser Herbstleseabend 2020 hat ein journalistisches Vorspiel. Am 14. Dezember 2017 veröffentlicht die Hamburger Zeit unter dem Titel „Jahrgang 1990“ einen längeren Beitrag von Valerie Schönian. Darin schreibt die junge Redakteurin: „Ich bin im September 1990 in Gardelegen geboren. In einem Land, das schon von keiner Mauer mehr umgeben war, das aber noch DDR hieß. In einem Land, das nicht mehr existiert. Ich gehöre zur ersten Ost-Generation, die komplett im vereinigten Deutschland aufgewachsen ist. (…) Ich dachte immer: Osten und Westen, das ist doch Vergangenheit. Das Deutschland, in dem ich aufgewachsen bin, hatte 16 Bundesländer, keine alten oder neuen. Aber das hat sich ziemlich geändert. Heute, da das vereinte Deutschland und ich 27 Jahre alt sind, ist der Osten für mich ein Teil meiner Identität geworden. Seit zwei, drei Jahren sage ich sehr bewusst: Ja, ich bin Ossi. Heute rede ich mit meiner Familie darüber und mit Freunden, der Osten ist ein Thema für mich. Und das kam, weil sich vieles in unserem Land verändert hat."

Und am Ende lautet ihr Fazit: „Wenn ich also sage, dass ich mich zuerst als Ostdeutsche fühle, dann ist das ein Versuch, diese Perspektive etwas sichtbarer zu machen. Sie ist nicht besser als andere, auch nicht wichtiger. Aber sie ist eine andere Perspektive, sie ist meine. Ich bin nicht Ossi, weil ich den ganzen Osten kenne. Ich war erst einmal in Schwerin und noch nie in Erfurt. Ossi zu sein ist auch nicht mehr nur Trotz, und es ist mehr als Verständnis. Es ist Solidarität. Ich fühle mich mit der ostdeutschen Geschichte, den Erfahrungen, den Biografien verbunden. Es ist meine Heimat.“

Der Text scheint einen Nerv getroffen zu haben. Er findet in der Zeit-Leserschaft regen Zu- und manchen Widerspruch. 829 Kommentare zählt das Netz. Zu den klügsten und einfühlsamsten Antworten gehört damals jene von Christoph Dieckmann, Jahrgang 1956 und gleichfalls aus Sachsen-Anhalt stammend. Der Zeit-Autor und geschätzte Herbstlese-Stammgast bekennt, er neige wie Valerie Schönians Vater zu der Ansicht, der Osten sei Geschichte, schätze aber die individuelle Perspektive der Autorin, das Meiden von Ost-Identität als bockigen Kollektivbegriff. Dieckmanns schönster Satz ist der letzte: „Liebe Valerie, dank Ihrer Jugend haben Sie viel verpasst. Seien Sie froh und so ostdeutsch, wie es Ihnen bekommt. Der Mensch braucht Wurzeln und Flügel.“

Seither sind fast drei Jahre vergangen. Wie das vereinte Land ist auch Valerie Schönian vor wenigen Tagen 30 geworden. Und aus dem „Jahrgang 1990“ ein Bestseller taugliches Sachbuch: „Ostbewusstein“. Die Autorin ist inzwischen eine Person des öffentlichen Interesses geworden. Sie liest und diskutiert, gibt Interviews, wird mit „Bei uns heißt das Polylux“ Kolumnistin im MDR-Radio und muss damit umgehen, dass sich auch Schubladen öffnen. Das Nachwendekind als neue Fachfrau für den Osten. Die Meinung der Buch-Kritik ist geteilt. Erfrischend ehrlich, interessante Facette, zum Nachdenken anregend - so loben die einen, während die anderen von Zeitgeistgeschwätz und Befindlichkeitsliteratur sprechen. Fehlende Erfahrung, schreibt ein Rezensent, schütze nicht vor falscher Nostalgie.

Nicht dem Wort, wohl aber dem Sinne nach wird das auch in Erfurt am Ende der Veranstaltung im Raum stehen. Hier im Haus am Breitstrom, dessen Saal in den Grenzen von Corona gut gefüllt ist, findet kein Solo für Valerie statt. Mit in Erfurt dabei: der Journalist Steffen Dobbert, Jahrgang 1982, geboren in Wismar. Er hat sein jüngstes Buch „Heimatsuche: In 80 Tagen durch Mecklenburg-Vorpommern“ mitgebracht, das demnächst erscheinen wird. Man kennt und schätzt sich. Schönians Zeit-Kollege Dobbert erfährt in „Ostbewusstsein“ neben anderen namentlich Dank für Unterstützung und Offenheit im Gespräch.

Dritte im Bunde ist die MDR-Kulturredakteurin Romy Gehrke, Jahrgang 1967, aufgewachsen im Norden der DDR. Die Moderatorin stellt beide vor und befragt sie zur Genese ihrer Bücher. Der Berichterstatter, der vor der Veranstaltung mit sich selbst gewettet hat, wird nicht enttäuscht und erlebt sein Deja vu: „Bei uns heißt das Polylux“. Was den Klappentext zweifarbig ziert, Kolumnen-Titel ist, im Ost-West-Quiz der Zeit zum 3. Oktober auftaucht und im Buch im Kapitel „Plötzlich Ossi“ auf Seite 17 steht, findet auch in Erfurt nach wenigen Minuten den Weg auf das Podium. Sie habe Leute getroffen, die nur den Overheadprojektor kannten und nicht wussten, was ein Polylux ist. Der Methapern müde denkt der Berichterstatter an dieser Stelle: Ex oriente polylux.

Einschlafen geht natürlich nicht. Dazu ist das Gespräch zu interessant. Valerie Schönian erzählt von ihrer Familie, von den Eltern und der Großmutter, mit denen sie immer wieder gesprochen hat. Von anderen Nachwendekindern und Menschen mit Ost-Biografie, die sie interviewt, von Studien, die sie liest. Weil es ihr wichtig ist, wiederholt sie ihr geschriebenes Wort: Das Buch, sagt sie, sei keine Enzyklopädie des Ostens und nicht objektiv, sondern gefärbt durch ihre Erlebnisse, durch ihr Leben.
Steffen Dobbert, den die Ossi-Wessi-Debatte langweilt, der sie für gestrig hält und von seinem Heimatbegriff spricht, hält dem „Ostbewusstsein“ entgegen: „Wir müssen anerkennen, dass es die DDR nicht mehr gibt. Wir müssen uns den heutigen Problemen stellen.“ Der weitgereiste Reporter erzählt von seinen 80 Tagen durch Mecklenburg-Vorpommern und den Begegnungen mit den dortigen Menschen. Und nennt es eine Fügung, denn er sei zu seinen Wurzeln gereist und bei ihnen geblieben, wohnt heute wieder dort, wo alles begann.

Nun lesen Schönian und Dobbert Passagen aus ihren Büchern. Valerie wählt das Kapitel „Platten: Lost und spannend“ aus. Kann eine Plattenbau-Siedlung aus den1960er Jahren in Neubrandenburg schön sein? Ist die Platte schön oder trostlos? Im Auge der Betrachterin und in ihrem Herzen erscheint sie als schön. Beim Wismarer Steffen darf das Erfurter Publikum demokratisch per Handzeichen entscheiden und wünscht sich vom Autor das Wismar-Kapitel, der darob sichtlich überrascht wirkt. Das von ihm Gelesene macht Lust auf die ganze Reisereportage.

Dann, die Zeit ist schon weit fortgeschritten, gerät der Abend doch noch etwas aus der Bahn. Dazu aufgefordert von der Moderatorin, zeigt Dobbert Fotos aus seinem Buch, allerdings keine von Wismar, keine vom Meer, sondern eines vom ehemaligen Stasi-Knast in Rostock, den er besucht hat und von dem er berichtet. Über die andere Seite zu reden, die DDR als Diktatur, ist wichtig und richtig. Aber es hätte einer anderen, auf tiefgründigen Streit angelegten Veranstaltung bedurft. Hier, im Schnelldurchgang, wirkt es aufgesetzt und löst Unruhe und eine entsprechende Wortmeldung im Saal aus. Das Publikum, das Schönians Meinung teilt, die DDR sei mehr als Geschichte in zwei Wörtern, nämlich Stasi und Wende, fühlt sich von oben herab belehrt und teilweise genervt. So gewinnt auch eine freundlich-flapsige Bemerkung von Steffen Dobbert nachträglich an Schärfe, wo er sich für die Schreibkünste der bewunderten Kollegin einen anderen Gegenstand als „Ostbewusstsein“ wünscht. Da der Veranstaltungsort die Aula eines Gymnasiums ist, könnte man das frei so übersetzen: Toll geschrieben! Thema verfehlt! Setzen! 5!

Der Abschluss ist versöhnlich. Das Publikum bedankt sich mit Beifall bei Valerie Schönian, Steffen Dobbert und Romy Gehrke, und als schöne Zugabe gibt es für die Gäste wie immer edle Erfurter Schokolade.

Wieder zuhause, liest der Berichterstatter noch ein wenig in der aktuellen Ausgabe der Zeit vom 15. Oktober 2020. Darin widmet sich Monika Berner, eine junge Frau aus Lugau im Erzgebirge, der Frage: Warum lässt sich die Generation der um 2000 Geborenen ihre Ost-Heimat nicht mehr madig machen?

Das nächste Buch, es kommt bestimmt.

Steffen Dobbert und Valerie Schönian im Ratsgymnsaium

Fotos: Holger John

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