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Erfurter Herbstlese
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Okt. 10 2017

Die Schreibwerkstatt im Kultur: Haus Dacheröden – Teil 1: Texte von Rita Dorn

Das Haus meiner Kindheit

Das Haus meiner Kindheit
Das Haus meiner Kindheit

Mitte September lud das Kultur: Haus Dacheröden - eingebettet in die Ausstellung „Das Prinzip Apfelbaum“ ­ - zur Werkstatt Kreatives Schreiben ein. Inspiriert von der Ausstellung waren zunächst Fragen wie „Was bleibt von mir?“  oder „Was kann ich weitergeben?“ unter Anleitung von Anke Engelmann Ausgangspunkte für erste praktische Versuche. Im Laufe des Wochenendes entstanden ganz unterschiedliche Texte – unterschiedlich in Form und Inhalt. Wir möchten die Ergebnisse gerne allen Interessierten zugänglich machen. Wir beginnen mit den Arbeiten von Rita Dorn, die Sie hier lesen können. Die Resonanz auf dieses Wochenende, bei dem gearbeitet, diskutiert, nachgedacht, gelacht und natürlich geschrieben wurde (gesungen übrigens auch!), war so positiv, dass wir das Format fortsetzen werden.

 

Prolog

Mein Apfelbaum scheint aus dem Nichts zu kommen; ich habe weder Boden noch Wurzeln gemalt. Nach oben strebt er, verzweigt sich rasch und in alle Richtungen. Immerhin sind seine Blätter leuchtend grün, was mir Lebensfreude zu sein scheint.

Aber unlogisch wäre dann doch, dass er so viele knallrote Äpfel trägt?

Ist es gleichzeitig möglich, dass man grünstrotzende Blätterlust verströmt und reife Äpfel zur Ernte bereit hängen? Müsste man nicht, ehe die Ernte kommt, schon ein bisschen altersgilben und müde vor sich hin bräuneln?

Ich weiß es nicht, staune über meine vielen reifen Äpfel und grüne weiter.

 

Apfelbaumgedanken

Kam ich aus dem Nichts? Aus welchen Wurzeln wuchs ich und wo finde ich Boden unter mir? Wer hat mich gepflanzt? Oder wehte mich der Wind herbei und ließ mich zufällig dort fallen, wo sich fruchtbare Erde fand? Ich begann zu wachsen, bevor ich mich dafür oder dagegen entscheiden konnte. Wuchs, strebte nach oben, wollte ans Licht, zur Sonne. Trieb aus, grünte und hielt Vögeln und Käfern meine Zweige hin, damit sie sich niederließen bei mir und ich nicht allein blieb. Eines Tages, unter warmer Frühlingssonne, begann ich zu blühen. Ich verströmte lieblichen Duft, leuchtete weiß und zart rosa. Bienen fanden mich, summten, naschten, umtummelten mich. Aus Blüten wurden Früchte, Ideen, Gedanken, Träume. Der Sommerwind fuhr mir durchs Blätterhaar, zauste und wiegte mich. Ich schob meine Zweige und Äste höher ins Blau, Kopf in den Wolken, hielt Herbststürme aus und trank gierig den Regen. Ich reifte. Früchte, klein noch. Doch sie wuchsen. Wurden schwerer, wollten von mir gehalten und getragen werden. Und lösten sich dann doch. Ich musste sie loslassen. Nun gilben mir die Blätter und morgens neble ich ein, hülle mich in ein Tuch aus Reif. Sehne mich nach Ruhe. Wenigstens für eine Zeit.

 

Das Haus meiner Kindheit

ist ein Zwilling. Ein fünfgeschossiges Eckhaus mit einem Türmchen auf dem Dach, in dem Rapunzel wohnte, da war ich mir als Kind ganz sicher. Genau gegenüber auf der anderen Straßenseite gab es seitenverkehrt das gleiche Haus noch einmal. Die schwere Messingklinke an der Eingangstür sah aus wie eine Schlange und schaute nach rechts. Gegenüber am Zwillingshaus schaute sie nach links. Oben im Zwillingstürmchen schlief Dornröschen.

Betrat man den Hausflur meines Hauses, wurde es kühl, und kaum, dass die schwere Tür ins Schloss gefallen war, auch still. Den Fußboden zierten kleinteilige bunte Mosaikfliesen, vier Stufen führten hinauf ins Foyer. Links war unsere Wohnungstür mit der schweren gusseisernen Briefklappe, gegenüber die Türen zu den anderen beiden Wohnungen. Am Ende des Foyers führten gebohnerte Holztreppen mit wunderschönen gedrechselten Geländern hinauf in die oberen Stockwerke. Hinter unserer Wohnungstür führten links vier Stufen wieder hinab zur Hoftür und zum Keller. Der Hof war lang und schmal, im vorderen Teil gepflastert. Links schloss sich an das Haus ein Flachbau an: das Waschhaus. Daneben standen schwere graue Aschtonnen. Weiter hinten wuchs hohes Gras. Zwischen den Wäschepfosten spannten wir Kinder Stricke und bauten uns aus Decken ein Zelt, trugen Puppen und Kissen hinein und spielten Vater-Mutter-Kind.

Wenn es regnete, schlichen wir uns die knarrenden Holzstufen hinauf bis in die Boden-Etage. Unterwegs schnappen wir uns die vor den Wohnungstüren liegenden Fußmatten und rutschten auf ihnen sitzend mit Schwung und viel Bohei die Stufen hinab. Stand oben die Bodentür offen, schlichen wir uns in den halbdunklen Gang, atmeten die staubige Luft und lugten durch die Latten in die einzelnen Bodenkammern. Eine halbe Treppe tiefer schauderte uns beim Blick durchs Fenster hinab auf den winzig kleinen Hof.

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