+49 361 644 123 75
Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
April 26 2023

Clemens Meyer liest und spricht zur Frühlingslese „Über Christa Wolf“ - das Buch ist in der Reihe „Bücher meines Lebens“ erschienen

Die Büste lebt

Zur Reihe „Bücher meines Lebens“ steuert Clemens Meyer „Über Christa Wolf“ bei. In Erfurt stellte er sein neues Buch vor. (Foto: Uwe-Jens Igel)
Zur Reihe „Bücher meines Lebens“ steuert Clemens Meyer „Über Christa Wolf“ bei. In Erfurt stellte er sein neues Buch vor. (Foto: Uwe-Jens Igel)

Von Sigurd Schwager

Unten am Einlass stehen geduldig Wartende, derweil oben im Saal für sie letzte freie Plätze aufgespürt oder noch zusätzliche Stühle herbeigetragen werden. Jedem wird geholfen. Dann kann der Abend im Kultur: Haus Dacheröden beginnen. Ein Abend, dessen Zulauf sich in hiesigen Gefilden zum einen fast schon von selbst durch den Titel des Buches erklärt, welches neu aufgeblättert werden soll: „Über Christa Wolf“. Zum anderen, der Applaus bekräftigt es, ist das Publikum neugierig auf den renommierten Leipziger Autor Clemens Meyer, Jahrgang 1977, der nun über seine große, 2011 verstorbene Dichterkollegin Christa W. schreibend nachgedacht hat.

Dem wäre wohl nicht so gewesen, hätte nicht Volker Weidermann den schönen Herausgeber-Einfall gehabt, die kleine, feine Reihe „Bücher meines Lebens“ auf den Weg zu bringen. Was bei Kiepenheuer & Witsch im Vorjahr mit Florian Illies „Über Gottfried Benn“ und Mithu Sanyal „Über Emily Brontë“ begann, wird 2023 fortgeschrieben mit Helga Schubert „Über Anton Tschechow“ und Clemens Meyer „Über Christa Wolf“.

Vier Tage vor dem gemeinsamen Leipziger Buchmesse-Auftritt von Schubert, Meyer und Weidermann bietet die Erfurter Frühlingslese Meyer das Podium für den ersten öffentlichen Auftritt mit seinem soeben erschienenen Buch. Was Lese-Programmchefin Monika Rettig dem Publikum vor dieser Premiere wünscht, geht in Erfüllung: Es werden anderthalb hoch interessante Stunden. Nichts anderes dürfte die kundige Zuhörerschaft von einer solchen Veranstaltung erwartet haben, die Christa Wolfs Leben und Werk gilt.

Umso schöner, dass bei aller Ernsthaftigkeit auch die heiteren Momente nicht fehlen und so ein durchweg kurzweiliger Abend zu erleben ist. Man hört, sieht und fühlt in Vortrag wie in freier Rede, dass in diesem Dichter auch ein kleiner Entertainer steckt. Ihm zur Seite sitzt in Erfurt mit dem Kulturjournalisten und Autor Torsten Unger ein in literarischen Dingen sehr erfahrener Gesprächspartner, der zunächst wissen möchte: „Warum gerade Christa Wolf? Sie wäre mir bei Ihnen nicht zuerst eingefallen.“ Sie sei seine Wahl, antwortet Meyer. „Aber natürlich wäre auch Wolfgang Hilbig eine Möglichkeit gewesen. Oder Werner Heiduczek, dessen Tod am Meer mich tief beeindruckt hat.“ Er erzählt, wie einst im Ergebnis einer langen Nacht der Alkoholbeseitigung eine Bronzebüste von Christa Wolf in seinen Besitz geriet und seither das Arbeitszimmer ziert. Die Büste lebt. Sie spricht mit ihm und er mit ihr, und der Dialog trägt das Buch.

Aus diesem liest Meyer nun Kapitel 1: „Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind? Christa Wolf schaut mich an. Skeptisch ihr Blick, dennoch scheinen ihre Lippen ein Lächeln anzudeuten, beinahe ein gütiges Lächeln, ein nachsichtiges? Nachsicht ob der Vorurteile, die immer noch über sie und ihr Werk kursieren ... Aber wie groß muss Christa Wolfs Aura in natura gewesen sein, wenn schon diese bronzene Büste den Raum vom Fensterbrett aus verändert. Sie strahlt eine Ruhe aus. Erdet förmlich mein Arbeitszimmer, dass an einer Ausfallstraße im Leipziger Osten liegt ... Ein Foto von Wolfgang Hilbig, der 1941, zwölf Jahre nach Christa Wolf geboren, aber vier Jahre vor ihr gestorben ist, steht schon lange auf meinem Schreibtisch. Sind Hilbig und Wolf nicht zwei absolut konträre Gestalten einer deutschen, einer DDR-Literatur? Der um die Form ringende Nachtalb und die kommentierende Seherin. Würde jemand einen Kopf von Hilbig gießen, ich würde auch ihn sofort kaufen.“

Nur wenige Absätze später spricht Clemens Meyer William Faulkners Wort für die Ewigkeit: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Damit eröffnet Christa Wolf ihren Roman „Kindheitsmuster“, der 1976 erscheint und dessen zweiter Satz über das Vergangene lautet: „Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Die „Kindheitsmuster“, älter als Meyer, sind für ihn ein Jugendmuster. Denn nachdem er 1996 das Abitur „mit Ach und Krach“ absolviert hat, geht der junge Mann, aus dem zehn Jahre später ein literarischer Shooting Star wird, als Hilfsarbeiter auf den Bau. Bei Lese-Bedarf für die Pausen immer dabei: die im Elternhaus vorrätige Taschenbuch-Ausgabe der „Kindheitsmuster“.

Es bereitet Vergnügen, dem Autor im Dialog mit Christa Wolf zu folgen, bei dem er auch viel über sich und sein Schaffen preisgibt. Zugleich ist Meyers Essay, wie Torsten Unger richtig anmerkt, eine kleine Geschichte der Literatur in der DDR. Das Vergangene ist nicht tot: Brecht gibt an die Nachgeborenen dem großen Chor die erste Stimme und Louis Fürnberg die letzte mit den Gedichtzeilen: „Wenn ich einmal heimgeh, / dorthin, woher ich kam, / werde ich ein Fremder sein / an meinen Ursprung.“

Dazwischen begegnen wir neben den von Meyer hochverehrten Hilbig und Heiduczek zum Beispiel Anna Seghers und Heiner Müller, Brigitte Reimann und Irmtraud Morgner, Karl-Heinz Jakobs und Franz Fühmann, Ronald M. Schernikau und Fritz Rudolf Fries, Erich Loest und Volker Braun, aber auch Hermann Kant und Erik Neutsch, und nicht zu vergessen die vier Helgas: Königsdorf, M. Novak, Schütz und Schubert.

Das Erfurter Publikum erlebt einen Meyer, den Herausgeber Weidermann so beschreibt: Er beschwöre einerseits „die Erinnerung an so viele große Werke, so viele große Autoren, die heute beinahe vergessen sind. Viele auch deswegen, weil ihr Werk in den Nachwendejahren von moralischen Scharfrichtern aus dem Westen abgeräumt wurde. Und er beschwört die Jungen von heute: Ihr müsst all das doch kennen, wenn ihr uns verstehen wollt! Ihr müsst all das doch kennen, wenn ihr das utopische Potential von Literatur verstehen wollt!“

Im Kultur: Haus Dacheröden entschuldigt sich Clemens Meyer am Ende vergnügt für sein „Reingequatsche“, schlägt sein Buch zu und bittet: „Lesen Sie es doch einfach selber.“ Das Publikum verspricht das mit heftigem Beifall. Und wem der Abend leider viel zu kurz geraten scheint: Der Autor leiht auch dem Hörbuch seine Stimme - für mehr als zweieinhalb Stunden „Über Christa Wolf“.

Jetzt Artikel bewerten!

  • 0 / ø 0

0 KommentareNeuen Kommentar schreiben

  • Bisher wurden noch keine Kommentare geschrieben

Allgemein

Erfurter Herbstlese ist verantwortlich für die Moderation und das Löschen von Kommentaren.

Bitte beachten Sie unsere Netiquette.

Alle Kommentare werden, bevor sie erscheinen, von einem Moderator bzw. einer Moderatorin geprüft.

Datenschutz

Unsere Datenschutzerklärung beschreibt, wie Ihre persönlichen Daten erfasst und verarbeitet werden.

Neuen Kommentar schreiben

Bitte melde Dich an, um einen Kommentar zu schreiben.

Über uns

Erfurter Herbstlese e.V. - Es lebe die Erfurter Herbstlese!

Unser Literaturverein organisiert seit 1997 die Erfurter Herbstlese, die zu den großen literarischen Veranstaltungsreihen in Deutschland gehört. Es lebe die Erfurter Herbstlese!

Öffnungszeiten

  • Kultur: Haus Dacheröden:
    Di bis Fr: 12.00 - 17.00 Uhr
    Sa: 10.00 - 17.00 Uhr
    Telefonische Erreichbarkeit:
    Mo - Fr: 09.00 - 17.00 Uhr
    Sa: 10.00 - 17.00 Uhr

Unsere Partner & Sponsoren

Gefördert durch