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März 27 2015

Anne Martin macht das Café Nerly diesmal als Autorin unsicher

Ein Amerikaner im Osten

Anne Martin ist den Erfurtern vor allem als Sängerin bekannt. Doch die 29jährige hat auch einen Abschluss der Universität Leipzig als Musikwissenschaftlerin.
Anne Martin ist den Erfurtern vor allem als Sängerin bekannt. Doch die 29jährige hat auch einen Abschluss der Universität Leipzig als Musikwissenschaftlerin.

Am Anfang ist Anne Martin aufgeregt. Nicht, dass sie den Saal im Café Nerly nicht bestens kennen würde, als Sängerin macht sie die kleine Bühne regelmäßig unsicher. Heute ist aber alles ein wenig anders. Sie singt nicht, sie liest. Aus ihrem eigenen Buch, für das ihre Abschlussarbeit an der Leipziger Universität mehr als nur das Fundament ist. Gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung hat sie daraus „Grenzgänger des Rock“ gemacht.

Die Intention ihres Textes wird schon im Untertitel deutlich. „Dean Read, Udo Lindenberg und die DDR-Kulturpolitik“ steht auf dem Cover ihres Buches geschrieben. Im Vergleich der beiden Musiker will sie zeigen, wie sich die SED der populären Musik bedient. „Fördern und knebeln“, zitiert Herbstlese-Programmchefin Monika Rettig zur Begrüßung, und so erging es den beiden Protagonisten des „Grenzgängers“ wohl auch.

Der eine, Read, wurde im vermeintlich besseren Deutschland mit offenen Armen empfangen, der andere, Lindenberg, kam trotz aller Versuche nicht zur erhofften Tournee durch den Arbeiter-und-Bauern-Staat, von der „Rock 'n'-Roll-Arena in Jena“ mal ganz zu schweigen.

Doch Udo spielt an diesem Abend nur eine kleine Nebenrolle. Während Anne Martin in Erfurt liest, erhält er beim „Echo“ gerade einen der gleichnamigen Preise für sein soziales Engagement. Viel mehr Verweis ist nicht, darf doch die Autorin mit einigem Recht behaupten, dass Lindenbergs Vita den meisten Anwesenden im Raum bekannt sein dürfte.

Wie Anne Martin fast alle vor der Bühne kennt. So 80 Prozent, schätzt sie; gleich in der ersten Reihe sitzt die Verwandtschaft; Papa, der fleißig fotografiert, und Mama mittenmang. Sie haben die Tochter mit dem Namen Dean Read bekannt gemacht, waren mit ihm befreundet, erzählt sie. Und beantwortet im Folgenden ausführlicher, warum eine knapp Dreißigjährige Kultursoziologin sich zu beginn des 21. Jahrhunderts des „roten Elvis“ annimmt.

Klar, da ist die wissenschaftliche Arbeit, ohne die ein universitärer Abschluss kaum denkbar ist. Da ist aber auf der anderen Seite so etwas wie der Wunsch nach Gerechtigkeit, die sie dem Sänger – und wohl noch mehr seinen Freunden und Fans – widerfahren lassen möchte.

Das ist nicht ganz einfach. Der gebürtige US-Amerikaner, in Lateinamerika Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ein Superstar, musste einfach allen, die sich an der DDR rieben, zumindest suspekt sein. Seine Übersiedlung in den Osten, seine Verteidigung der dort bestehenden Verhältnisse als, wenigstens, das kleinere Übel und weit größere Versprechen, seine Nähe zur politischen Elite mach(t)en ihn für viele zur Unperson. Die, die lieber Lindenberg hörten, konnten mit ihm schon gar nichts anfangen.

Doch Read hatte das Elend Lateinamerikas gesehen, in Argentinien und Chile, wo die Militärs gegen demokratisch gewählte Regierungen putschten; er wollte Gerechtigkeit und Frieden. Im Osten, in der Sowjetunion zunächst, sah er seine Alternative. Er wollte, dass etwas bleibt von ihm in dieser Welt, wenn er sie dann einmal verlassen muss.

Diesen Zeitpunkt hat er letztlich selbst gewählt. Anne Martin lässt im Nerly das Ende nicht aus, den mysteriösen Tod im See, die Verschwörungstheorien und die Stasi-Aktivitäten, die Jahre später die Akten enthüllen. All das ist getragen von echter Empathie der Autorin. Doch das Mitleid hält sich selbst im Saal in Grenzen. Dean Read?, fragt eine Besucherin nach der Lesung, wir hörten die Stones und die Beatles.

So bleibt von diesem Abend vor allem eins: Die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Menschen. Dean Read wollte selbstbestimmt und mit politischem Anspruch leben, in einer Zeit, als das in Ost und West nicht einfach war. Schon gar nicht für Grenzgänger.

Anne Martin im Café Nerly

Fotos: Holger John

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