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Erfurter Herbstlese
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Sept. 26 2016

Kristin Helberg wirbt im Collegium Maius mit ihrem Buch um Verständnis für „Syrer bei uns“

Eine Dolmetscherin des Miteinanders

Kristin Helberg weiß, wovon sie schreibt uns spricht. Sie lebte selbst in Damaskus und ist mit einem Syrer verheiratet.
Kristin Helberg weiß, wovon sie schreibt uns spricht. Sie lebte selbst in Damaskus und ist mit einem Syrer verheiratet.

Von Sigurd Schwager

„Die Zeit der Kuscheltiere am Bahnhof ist vorbei. Niemand klatscht mehr, wenn Geflüchtete aus den Zügen steigen. 'Wir sind das Volk' — dafür gibt es inzwischen mehr Applaus, für das deutsche Volk, dessen Identität in Gefahr zu sein scheint. Unkontrollierte Massenzuwanderung, Asylchaos, Obergrenzen, Terroranschläge und immer wieder 'Flüchtlingswellen', die uns 'überfluten'. Darunter hunderttausende Syrer . . .“

Diese Sätze sitzen.

Mit ihnen beginnt die Journalistin und exzellente Syrien-Kennerin Kristin Helberg ihr lesenswertes Buch, das zupackender ist als sein umständlicher Titel: „Verzerrte Sichtweisen. Syrer bei uns. Von Ängsten, Missverständnissen und einem veränderten Land.“ Hanno Müller bringt in seiner Buchbesprechung in der „Thüringer Allgemeinen“ die 269 Seiten auf den kürzesten, auf den besten Nenner: „Syrer verstehen“. Genau darum geht es. Adressaten der temperamentvollen Erfahrungs- und Streitschrift sind wir, die Deutschen. Wir haben nämlich oft mehr guten Willen als solides Wissen.

Sie wolle sich bemühen, verspricht die Autorin ihren Lesern, nicht nur Syrien zu erklären, sondern vor allem seine Menschen in ihrer ganzen Vielfalt und Widersprüchlichkeit. Denn d i e Syrer gibt es so wenig wie d i e Deutschen. Im Gegensatz zu den Experten im Schwadronieren weiß Kristin Helberg sehr genau, wovon sie sehr differenziert redet. Ihr Blick ist einer sowohl von außen als auch von innen. Sie hat von 2001 bis 2008 aus Damaskus für Funk, Fernsehen und Zeitungen im deutschsprachigen Raum über Syrien und die arabische Welt berichtet. Heute lebt sie mit ihrem syrischen Mann und den Kindern in Berlin.

Es ist gut, dass es ein Jahr nach Angela Merkels bekanntestem Satz ein solches Buch gibt - und erfreulich, der Autorin auf der Erfurter Jubiläums-Herbstlese begegnen zu können. Keiner zeigefingernden Frau Knigge, wohl aber einer einfühlsamen Dolmetscherin des Miteinanders.

Der dicht gefüllte Saal im Collegium Maius bezeugt das große Interesse am schwierigen Thema. Kristin Helberg macht es für ihr Publikum greifbar, begreifbar. Sie spricht über uns, die wir gestresst sind und keine Zeit haben. „Jugendliche unter 18 dürfen Alkohol trinken und Sex haben, aber nicht rauchen! Im Bus müssen ältere Menschen stehen, weil ihnen keiner Platz macht! Männer küssen sich mitten auf der Straße! Viele fahren Fahrrad, obwohl sie ein Auto haben! Manche Kinder haben keinen Vater, sondern zwei Mütter! Bei roten Ampeln bleiben die Leute stehen, auch wenn kein Auto kommt! Jungen und Mädchen gehen fast nackt zusammen schwimmen und trotzdem passiert nichts! Um deutsche Freunde zu treffen, muss ich zwei Wochen vorher einen Termin vereinbaren!“

Diese und viele andere Dinge, sagt die Autorin, fallen Syrern in Deutschland auf.  Sie seien überrascht bis schockiert. Zugleich betont Kristin Helberg, dass es ihr nicht vordergründig um das Überwinden, das Glattbügeln von Unterschieden gehe, sondern darum, herauszufinden, was der nicht verhandelbare Kern unseres gesellschaftlichen Konsenses sei. Es werden 90 intensive, weil höchst kenntnisreiche Vortrags- und Erzählminuten über den Alltag und das große Ganze. Sie handeln, wenn man es zusammenfassen will, immer wieder von menschlicher Wärme und Verständnis.

Kerstin Helberg, die das Gegenteil von weltfremd und schönfärbend ist, liest ein von unverdrossener Hoffnung getragenes Plädoyer aus ihrem Buch vor: „Kanada hat für sich den Leitspruch 'Einheit in Vielfalt' gefunden. Für Deutschland würde es vielleicht umgekehrt passen: 'Vielfalt in Einheit'. Damit wir Einwanderung nicht als etwas Unerwünschtes betrachten, das über uns kommt oder das wir aus demografischen Gründen brauchen, sondern als Teil unseres Selbstverständnisses als Deutsche.“

Natürlich können wir stolz darauf sein, Deutsche zu sein, sagt die Autorin. „Auch ich will Deutschland für meine Kinder und Enkelkinder erhalten. Allerdings als ein Land, das Freiheit gewährt und Toleranz lehrt, das allen Menschen die gleichen Rechte garantiert und Andersartigkeit als Bereicherung und nicht als Gefahr begreift . . . Die Syrer zu integrieren wird sich lohnen: menschlich, als Investition in Syriens Zukunft und womöglich auch für Deutschland.“

Der Beifall ist laut und lang und herzlich.

Das wissensdurstige Erfurter Publikum, das zeigen die sich anschließenden Fragen, fühlt sich der Autorin und ihrem leidenschaftlichen Werben für Verständnis sehr verbunden. Man wünscht sich, dass nicht nur jene das Buch lesen mögen, die sich mit Kristin Helberg ohnehin schon auf einer Wellenlänge befinden. Denn die Frage, ob Deutschland es wirklich schafft, ein erfolgreiches Integrationsland zu werden, ist noch längst nicht beantwortet.

Kristin Helberg im Collegium Maius

Fotos: Holger John

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