Neugier und gesunde Beine
Moskau, Washington, Peking und wieder Moskau – Gerd Ruges Stationen als Reporter sind Wegmarken der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sie brachten ihn mit den wichtigsten Politikern der letzten Jahrzehnte zusammen und eröffneten ihm dabei auch immer Einblicke in das ganz normale Leben. Gerade die Reportagen jenseits der großen Politik sind ein Teil des Fundamentes seiner großen Beliebtheit, die nach seinem Ausscheiden aus der aktuellen Berichterstattung nicht nachlässt. Das Atrium der Stadtwerke ist bis auf den letzten Platz gefüllt, als er am Samstag bei der Herbstlese „Unterwegs“ vorstellt. Es sind seine politischen Erinnerungen.
Sein Gesprächspartner ist Andreas Postel. Der Leiter des ZDF-Landestudios Thüringen macht dem Publikum schnell klar, dass dieser Abend einer der Sprünge wird, so übervoll ist Ruges Leben mit Erlebnissen und Begegnungen angefüllt, die des Berichtens wert sind. Das beginnt schon in der Kindheit und Jugend Ruges, den Zeiten des Erstarkens des Nationalsozialismus und seines schmählichen Untergangs. Diese Jahre zeigen ihm eines überdeutlich: Nichts glauben, was man nicht selbst sieht. Nach all den Lügen ist er Zeit seines (journalistischen) Lebens einer Sache verpflichtet: der Wahrheit.
Der Erfurter Schauspieler Martin Schink liest die ersten Passagen des Buches. Ein Satz aus einer Beurteilung des Schülers Ruge bleibt in Erinnerung: „Gerd ist höflich, aber unzugänglich.“ Es klingt wie ein Leitmotiv.
Er muss auf seinen Lebensstationen immer wieder erfahren, welch hohes Gut die Wahrheit ist. Wie die Mächtigen versuchen, sie zu verschleiern, sie zu verstecken. Aber er erlebt auch Zeiten, in denen sie sich nicht verleugnen lässt. Da sind die Jahre nach Stalin, später die Zeit Gorbatschows; Momente großer Hoffnung, denen bittere Enttäuschungen folgen. Doch darauf hat der Osten kein Monopol, auch im Westen erlebt der Journalist merkwürdige Dinge. Mit am nachdrücklichsten empfindet dies das Publikum bei seinen Erinnerungen, die sich um die Ermordung John F. Kennedys ranken. Gerd Ruge, an diesem denkwürdigen Tag vor 50 Jahren im Flugzeug in den Süden der USA unterwegs, erlebt, wie bei der Durchsage des Piloten über die Bluttat Jubel ausbricht. Aus heutiger Sicht ist es schier unvorstellbar, wie verhasst der Präsident bei vielen seiner Landsleute damals war, erst sein tragischer Tod ließ ihn zum Mythos werden.
Das Gespräch von Andreas Postel und Gerd Ruge wird vier Mal von Hörbeispielen unterbrochen, es sind Reportagen aus dem Korea-Krieg, vom Besuch Adenauers in Moskau, den Unruhen in Washington nach der Ermordung Martin Luther Kings und vom Putschversuch in Moskau 1991. Vor allem die Schilderung der Washingtoner Ereignisse vom April 1968 zeigt, wie viele Jahre seitdem vergangen sind. In Gerd Ruges Bericht weht der Rauch hinüber zum Weißen Haus von den vielen Bränden im Schwarzenviertel, die Nationalgarde zieht auf, während fast unbeeindruckt jugendliche Schwarze nebenan Basketball spielen. So war das damals. Ein Schock für den Journalisten, der die Rassentrennung als Realität zur Kenntnis nehmen muss – als hätte es die dunkelste Zeit in Deutschland nie gegeben.
Die 90 Minuten sind rasend schnell vorbei. Es ist ein denkwürdiger Abend. Einige Besucher behalten ihn auch als sehr anstrengend in Erinnerung; der Rede Gerd Ruges ist nicht leicht zu folgen, die Versuche der Tontechnik, auszugleichen, sind nicht immer von Erfolg gekrönt.
Andreas Postel beendet das Gespräch mit dem letzten Satz des Buches: „Das Leben besteht aus Fragen und Antworten und Fragen und Antworten, die zur nächsten Frage führen.“ Dann liest er noch den vorletzten vor: „Neugier und gesunde Beine sind das Wichtigste für einen Journalisten.“ An Neugier, da gibt es gar keinen Zweifel, mangelt es Gerd Ruge auch im neunten Lebensjahrzehnt nicht. Aber die guten Wünsche, die seine Gesundheit betreffen, die nimmt er gern an. Danach bilden sich lange Schlangen; am Büchertisch und, da vor allem, beim Signieren.