Wenn es bei der Lesung klingelt

Drei Tage tourt Sportreporter Waldemar Hartmann durch Thüringen. Erst unterhält er bei TA-Cafés sein Publikum in Sömmerda und Apolda, dann ist er bei der Herbstlese im Atrium der Stadtwerke zu Gast. Lesungen sind das nicht, auch wenn er sein aktuelles Buch „Dritte Halbzeit. Eine Bilanz“ immer dabei hat. Nein, zum Lesen kommt er nicht. Dafür hat Waldemar Hartmann viel zu viel erlebt, davon will, ja muss er erzählen. Und was heißt schon hat: In Erfurt wird ein neues Kapitel mit und über ihn geschrieben, zum großen Teil sind seine Zuhörer live dabei.
Doch der Reihe nach. Anfang November ist er in Sindelfingen zu Gast, die „Dritte Halbzeit“ steht auch dort auf dem Programm. Gleichzeitig zeichnet man bei RTL ein Prominenten-Spezial von „Wer wird Millionär?“ auf. Mit dabei ist auch Top-Model Lena Gercke, die Freundin von Nationalspieler Sami Khedira. Sie hat Waldemar Hartmann als Telefon-Joker angemeldet, falls sie bei einer Sportfrage nicht weiter weiß. Der Franke hat ihr zugesagt.
In Sindelfingen nimmt die Lesung ihren Lauf. Waldemar Hartmann erklärt dem Publikum, dass er einen Anruf bekommen könnte, die Lena und RTL, er müsste dann mal kurz rangehen. Doch die Lesung geht vorüber. Inzwischen sitzt man noch ein wenig zusammen, der Buchhändler, die Leute von der Zeitung, da klingelt es doch noch: Es ist Günther Jauch.
Der Rest ist hinlänglich bekannt. Waldemar Hartmann steht völlig auf dem Schlauch. Auf Lena Gerckes Frage, welche Mannschaft noch nie in der Heimat Weltmeister wurde, antwortet er schnell und sicher: Deutschland. Das mit München 1974 vergisst er in diesem Moment schlicht. Eine Katastrophe, auf den ihn die Runde in Sindelfingen sofort hinweist, als er die Verbindung zu Günther Jauch beendet. Was für ein Fauxpas!
Doch es kommt schlimmer. Gut zwei Wochen muss der Moderator schmoren, nichts dringt vor der Sendung an die Öffentlichkeit. Dann sitzt er in Erfurt vor über vierhundert Zuhörern, zugleich flimmert das beliebte Quiz über die Bildschirme der Nation. Es dauert nicht lange, und das schnurlose Telefon klingelt. Am anderen Ende ist ein Journalist einer großen Boulevardzeitung. Waldemar Hartmann vertröstet ihn auf später. Er weiß, was jetzt auf ihn zukommt.
Seit spätestens zehn Jahren scheidet er die Republik, seit der Sache damals mit Rudi Völlers Wutrede. Seitdem ist Waldemar Hartmann Weizenbier-Waldi, ein Umstand, der ihn dank eines Werbevertrages mit einer Brauerei nicht ärmer werden ließ. Dennoch, seit dieser Zeit ist sein Nimbus angekratzt, die einen mögen ihn – vielleicht nun erst recht −, die anderen schmähen ihn, wo sie nur können. Schwer zu sagen, welche Gruppe größer ist.
Das spielt auch keine Rolle, so lange sich Waldemar Hartmann auf seine Anhänger verlassen kann. Da muss er sich keine Sorgen machen, sie halten zu ihm. Das wird in Erfurt ganz deutlich. Mögen sich andere an Schlagzeilen wie „Die größte TV-Blamage aller Zeiten“ erfreuen, er bleibt ihr Mann. Zum Dank quasi erzählt er den Leuten, wie er diese Herausforderung meistern will: offensiv. Nicht wie ein gewisser Tennisspieler, der – oder ist es sein Management? – in größter Erklärungsnot die Sage vom Samenraub erfindet. Nein, Waldemar Hartmann geht den Weg eines Weltmeisters, der in aller Offenheit und in großen Lettern über das späte Geschenk einer Weihnachtsfeier in großen Lettern titeln lässt: Gott freut sich über jedes Erdenkind!
Ob Waldemar Hartmanns Freude biblische Ausmaße annimmt? Wohl nicht. Aber die Sache wird ihn nicht den Kopf kosten, den Job schon gar nicht, als Pensionär kann ihm da nichts passieren. Er wäre nicht er, wenn es ihm nicht gelänge, auch etwas Positives aus der Peinlichkeit zu ziehen. Dem Buchverkauf, sinniert er, wird diese zusätzliche Werbung zumindest nicht schaden.
In Erfurt ist das zu erleben. Noch lange sitzt er am Tisch neben dem Podium und signiert fleißig. Dann ist endlich Zeit für die dritte Halbzeit. Er hat sie sich redlich verdient.