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März 23 2024

Geschichtsstunde mit Christopher Clark zum „Frühling der Revolution“

Ritter der tausend und mehr Seiten

Christopher Clark zählt zu den gefragtesten Historikern Europas. Foto: Uwe-Jens Igel
Christopher Clark zählt zu den gefragtesten Historikern Europas. Foto: Uwe-Jens Igel

Von Sigurd Schwager

Natürlich kennt die Bücherwelt dickere Wälzer als den „Frühling der Revolution“. Aber dieser hier, der selbst von größten Umwälzungen handelt, wäre mit seinen 1164 Seiten zumindest ein Fall für das Guinness-Hausbuch der Erfurter Herbstlese. Ein Rezensent vom Deutschlandfunk hat sogar mit revolutionärem Humorschwung das wuchtige Werk zentimeter- und grammgenau vermessen, gewogen und dann mit dem Lebensretter-Siegel versehen: „Jede revolutionäre Pistolenkugel würde darin steckenbleiben, bedeckte man mit diesem Schutzschild sein Herz.“

Sir Christopher Clark, Herr und Ritter der tausend und mehr Seiten, hätte dafür wohl ein leises Lächeln übrig. Er ist schließlich ein Mann mit feinem Gespür für britischen Humor. Doch nicht wegen dieser Eigenschaft strömt jetzt zur Frühlingslese das Erfurter Publikum in hellen Scharen herbei. Es lockt die Schönheit des Anstrengenden. Dank Anspruch ausverkauft: Auch das Prinzip kann funktionieren. Es macht den Umzug von der Buchhandlung am Anger in die Aula am Breitstrom notwendig, wobei selbige dann ebenfalls an ihre Kapazitätsgrenzen stößt.

Bei einem nächsten Mal könnte die große Oper eine Option sein, denn dieser australische Professor, der an der geschichtsträchtigen Universität in Cambridge Neuere Europäische Geschichte lehrt, ist längst ein Mann der großen Bühnen. Der 64jährige gehört zu den bekanntesten Historikern unserer Zeit. Ein Star seiner Zunft. Als Sachbuchautor ein Bestseller-Garant, als Fernsehmoderator seit zehn Jahren vertrautes Gesicht und vertraute Stimme für ein Millionenpublikum. Deutschland-Saga, Australien-Saga, Europa-Saga, Welten-Saga. Ein Ende ist nicht in Sicht. Sieben Tage nach Erfurt, Ostern, führt er bereits wieder im ZDF durch die Weltgeschichte der Religionen.

Sein jüngstes Buch begibt sich in die Mitte des vorvorigen Jahrhunderts, taucht ein in das Europa von 1848/49 und beschreibt den Kampf für eine neue Welt. In Thüringens Landeshauptstadt, wo Clark seinen „Frühling der Revolution“ kalendarisch stilvoll am dritten Frühlingstag des Jahres vorstellt, sitzen an seiner Seite zwei Professoren der hiesigen Universität: Andre Brodocz und Gerhard Wegner.  Als Übersetzer werden sie nicht benötigt. Das Deutsch des Gastes ist nahezu perfekt. Die beiden Herren strukturieren mit ihren kundigen Anmerkungen, Einschätzungen und Fragen den Gesprächsabend, der allerdings bis zum Schluss komplett streitfrei bleiben wird.

Christopher Clark, der Meister des analytischen Erzählens von Geschichte, ist, man sieht und hört es in Erfurt, ebenso ein Meister des gesprochenen Wortes: lebendig, verständlich und bar jeder Tümelei. Die Revolution von 1848, sagt er, sei in ihrer Intensität und Reichweite einzigartig gewesen in der europäischen Geschichte, denn sie habe eine transkontinentale Lawine ausgelöst. Zwar scheine sich das Jahr 1989 für einen Vergleich zu eignen, aber noch heute sei umstritten, ob man die damaligen Aufstände überhaupt als Revolutionen bezeichnen könne.

„Im Jahr 1848 hingegen brachen politische Unruhen zeitgleich auf dem ganzen Kontinent aus, von der Schweiz und Portugal bis in die Walachei und Moldau, von Norwegen, Dänemark und Schweden bis nach Palermo und zu den Ionischen Inseln. Es war die einzige wahrhafte europäische Revolution der Geschichte.“ Ihr wohl auffälligstes Merkmal der Zeitgleichheit bleibe bis heute für die Historiker ein Rätsel.

Clark baut ein Panorama bunter Szenen mit manchmal charismatischen Akteuren und sagt dazu Sätze wie diese: „Es gab keinen Plan der Revolution. Alle waren überfordert. Und zwar sehr, sehr schnell.“ In dem Moment entfährt es in der Aula dem gebannt lauschenden Sitznachbarn des Berichterstatters halblaut: „Genau wie 1989!“ Im Buch des Abends findet man dazu die Vermutung des Autors: „Wenn denn eine Revolution bevorsteht, (...) könnte sie ganz ähnlich aussehen wie 1848: schlecht geplant, verstreut, uneinheitlich und voller Widersprüche.“

Auf der Frühlingslese-Bühne versieht der Geschichtsprofessor das 48er-Geschehen mit der pointierten Überschrift „Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution“. Dieser kontinentale Aufstand, sagt er, sei aufs Ganze gesehen nicht gescheitert, denn er habe als europäischer Teilchenbeschleuniger gewirkt und zu Veränderungen geführt, deren Spuren ins Heute führen.

Der Historiker ein Spurenleser, ein Ermittler am Tatort Geschichte. Starker Beifall am Ende einer intensiven Geschichtsstunde. „Es ist eine große Freude, Ihnen zuzuhören“, dankt Programmchefin Monika Rettig dem Gast.

Zuhause blättert der Berichterstatter noch einmal in Christopher Clarks Buch vom europäischen Völkerfrühling. Und liest auf Seite 1024 den schönen finalen Satz: „Historiker sollten bekanntlich der Versuchung widerstehen, sich selbst in den Menschen der Vergangenheit zu erkennen, aber als ich dieses Buch schrieb, hatte ich das Gefühl, die Menschen von 1848 könnten sich in uns wiederfinden.“

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