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Erfurter Herbstlese
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Aug. 22 2023

Berührend und ermutigend: Helga Schubert auf der Sommerbühne

„Schreiben ist Rettung“

Eine Liebe, trotzt allem: Helga Schubert berührte mit ihrer Lesung das Erfurter Publikum nachdrücklich. (Foto: Renate von Mangoldt)
Eine Liebe, trotzt allem: Helga Schubert berührte mit ihrer Lesung das Erfurter Publikum nachdrücklich. (Foto: Renate von Mangoldt)

Von Sigurd Schwager

Ein Dienstag im August. Auf Erfurts Sommerbühne 2023 wird Helga Schubert im gut gefüllten Hof des Hauses Dacheröden erwartet. Die Vorfreude auf den Abend mit dieser Autorin führt den Berichterstatter - und gewiss nicht nur ihn - weit zurück in die eigene Lesevergangenheit. Denn im heimischen Regal mit unveräußerlichem Lesestoff aus der DDR steht unter anderem neben Günter Kunerts „Kramen in Fächern“ von 1968 und Volker Brauns „Das ungezwungene Leben Kasts“ von 1971 auch Helga Schuberts „Lauter Leben“ aus dem Jahr 1975.

Der beträchtliche Eindruck, den jener schmale Band damals macht, ist bis heute nicht verblasst, und sein Anfang „Meine alleinstehenden Freundinnen...“ längst Stehsatz der Erinnerung. Was für ein Debüt! Eine 35jährige Psychologin betritt mit 31 Geschichten die literarische Bühne und etabliert sich damit sogleich als Großmeisterin der kurzen Form. Ihr Buch hält, was Titel und Klappentext versprechen: Lauter Leben, nichts als Leben, makellos, ungeschminkt, oft von Frauen handelnd. Lauter Leben - selbst wenn vom Friedhof die Rede ist.

Helga Schuberts Förderin Sarah Kirsch ist voll des Lobes über die fünf Jahre jüngere Dichterkollegin, preist sie im Nachwort: „Und sie ermuntert uns: eher lassen wir uns vom Donner erschmeißen, bevor wir uns mit Verhältnissen begnügen, die nicht menschlich sind.“ Die Verhältnisse greifen bald auch nach dem Buch. Als Sarah Kirsch 1976 gegen die Biermann-Ausbürgerung protestiert und ein Jahr später die DDR verlässt, entfernt der Aufbau-Verlag kommentarlos ihren Text aus den Nachauflagen.

In der jüngsten Ausgabe von „Lauter Leben“, erschienen 2022, taucht die Kirsch-Eloge wieder auf, und der Kritiker der Süddeutschen gibt sein Wiederlesen-Lob hinzu: „Längst ist die beschriebene Welt dahin, aber noch 50 Jahre später sind diese Porträts von einer ergreifenden Lebendigkeit.“

Dass man heute Helga Schuberts frühere Werke nicht im Antiquariat suchen muss, sondern direkt im Buchladen kaufen kann, entspricht zweifellos ihrem zeitlosen literarischen Rang, wäre jedoch noch vor kurzem unwahrscheinlich gewesen. Das Ende der langjährigen Ignoranz im geschäftigen Literaturbetrieb ist genau datiert und adressiert: Juni 2020 in Klagenfurt. Helga Schubert, gerade 80 geworden, wird im Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb von Jury und Publikum für ihren Text „Vom Aufstehen“ über eine schwierige Tochter-Mutter-Beziehung hymnisch gefeiert und gewinnt am Ende diesen herausragenden Preis für deutschsprachige Literatur.

Ironie des Schicksals und späte Genugtuung: Schon einmal, 1980, da ist sie 40, soll sie auf Empfehlung von Günter Kunert in Klagenfurt an den Start gehen. Aber die DDR-Oberen verweigern ihr die Reise nach Österreich.

Von alldem und anderem mehr wird Helga Schubert, der späte Literaturstar, im Verlauf des Erfurter Abends berichten. Und auch davon, wie bei ihr auf einmal die Verlage Schlange stehen, Buch-Verträge anbieten und für die Unterschrift versprechen, auch die früheren Werke neu aufzulegen.

Drei Jahre und zwei Monate nach dem Triumph am Wörthersee sitzt Helga Schubert mit ihrem neuen Buch „Der heutige Tag“ auf der Bühne am Erfurter Anger, genießt den herzlichen Beifall des vorwiegend älteren und noch vorwiegender weiblichen Publikums, vernimmt die Begrüßungsworte von Programmchefin Monika Rettig, die das zu Erwartende ankündigt: ein Buch über Liebe und Tod, zärtlich und schonungslos, poetisch und nüchtern, immer ganz und gar wahrhaftig.

Wie zuvor „Aufstehen. Ein Leben in Geschichten“ ist auch „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ zum Bestseller geworden. Das Buch nimmt uns mit ins mecklenburgischen Dorf Neu Meteln. Hier pflegt Helga Schubert seit sieben Jahren Tag und Nacht ihren heute 96jährigen schwerstkranken Ehemann Johannes Helm, der im Buch Derden heißt. „Der, den ich liebe“, sagt sie und lächelt. Alles, fährt sie erklärend fort, jedes einzelne Kapitel, das ganze Buch sei auf den letzten Satz hin geschrieben. Das Erfurter Publikum werde ihn später noch zu hören bekommen.

Ihrem Buch stellt die Christin Helga Schubert als Motto Matthäus, Kapitel 6, Vers 34 voran:

          „Darum sorgt nicht für den andern Morgen;
          denn der morgende Tag wird für das Seine
          sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag
          seine eigene Plage habe.“

Die Autorin schlägt ihr Buch auf und liest den Anfang: „Jede Sekunde mit Dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen.Zwei alte Liebesleute. Ist es morgens oder abends, fragt er mich dann. Ich gehe ins Badezimmer, fülle seinen Zahnputzbecher mit warmem Wasser und ein paar Tropfen Zahnputzwasser, spüle sein Gebiss, gehe damit in sein Zimmer, setze mich auf seine Bettkante, er rückt mühsam etwas zur Seite, damit ich es auf der Matratze weicher habe, ich gebe ihm den Zahnputzbecher und zum Ausspucken der Mundspülung einen leeren großen Joghurtbecher.
Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist.
Ich liebe ihn sehr...“

Lauschende Stille im Hof. Wie das Buch, so Helga Schuberts feste Stimme: warmherzig und unsentimental, vertrauend und wissend, furchtlos und heiter. Ein Mann und eine Frau und eine Lebensgeschichte. Die Kritikerin Insa Wilke, die die Autorin für das Wettlesen 2020 vorgeschlagen hat, bringt gut auf den Punkt, was man beim Lesen oder jetzt eben in Erfurt beim Zuhören empfindet: „Helga Schubert erzählt davon, wie man Frieden machen kann mit diesem Leben.“

Wie sie das, was eigentlich nicht zu schaffen ist, doch schafft, wird sie in Erfurt gefragt. Wenn sie ihren Mann anschaue, sagt sie, stelle sie sich vor: Das könntest du sein! Dieser Satz helfe ihr unheimlich viel. Zwei Frauen aus dem Publikum, die sich zu Wort melden und der Autorin für das Buch danken, bestätigen aus eigenen Pflege-Erfahrungen die Kraft eines solchen Gedankens. Wenn ihr Mann schlafe, erzählt Helga Schubert, schreibe sie. „Schreiben ist Rettung.“ Es helfe ihr, auf Distanz zu gehen.

Sogar parallel an zwei Texten habe sie gearbeitet und beide, der eine dem anderen helfend, seien tatsächlich rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse fertig geworden: „Der heutige Tag“ und „Über Anton Tschechow“ für jene von Volker Weidermann herausgegebene schöne neue Buchreihe "Bücher meines Lebens". Darin nähert sich Helga Schubert dem großen russischen Dichter über seine Erzählung "Gram". Wie beschreibt man den Schmerz? Was überhaupt vermag das Wort in dunkelsten Momenten? "Das hat mir gutgetan." Sie holt das Tschechow-Bändchen hervor, hebt es hoch, sagt, da habe sie sich große Mühe gegeben –  und bekommt Szenenapplaus.

Dann liest sie wieder vom heutigen Tag, unterbricht, erzählt vom Pflegealltag und Radio-Falschmeldungen zum Tod ihres Mannes, von der schwierigen Suche nach guter fachlicher Hilfe, der komplizierten Organisation von Literatur-Terminen. Eine Betreuerin, erzählt sie, ziehe bald weg, weil sie sich um die eigenen Eltern kümmern müsse. Sie schaut ins Publikum: "Da kann ich dann leider nicht mehr nach Erfurt kommen."

Schließlich trägt sie die drei Seiten des letzten Kapitels vor, die zu dem eingangs angekündigten Schluss-Satz führen: „Und der morgende Tag wird für das Seine sorgen.“

Viel Beifall für zwei berührende und ermutigende Stunden, die manchmal sogar ein Lächeln auf die Gesichter zaubern Und Vorfreude auch. „Ich muss“, kündigt Helga Schubert an, „noch zwei Bücher schreiben.“ Das eine über die Malerei ihres Mannes, dessen Bilder im Herbst in Worpswede ausgestellt werden. Das andere über ihre Großmütter, zwei taffe alte Frauen.

Auch da wird der morgende Tag für das Seine sorgen.
 

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