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März 16 2024

Deborah Feldman mit „Judenfetisch“ in Erfurt

Verteidigung des Individuums

Deborah Feldmann (Foto: Luchterhand)
Deborah Feldmann (Foto: Luchterhand)

Über ihr Buch „Judenfetisch“ sprach Deborah Feldman am Donnerstag, 14.05.2024 vor über 250 Zuhörern im Evangelischen Ratsgymnasium in Erfurt

 

Aus dem Kollektiv einer ultra-orthodoxen Gemeinde in New York hatte sie sich befreit. In Deutschland erlebte sie sich plötzlich als Vertreterin eines Kollektivs. Ihr kontrovers diskutiertes Buch stellte die Autorin jetzt in Erfurt vor.

Dies sei ein gemeines Wort, gibt Deborah Feldman in ihrem Buch zu. Vom noch sehr freundlichen Begriff spricht sie, als sie damit vor über 250 Menschen im Erfurter Ratsgymnasiums auftritt, eingeladen von der Herbstlese, den jüdisch-israelischen Kulturtagen und der Ebert-Stiftung. „Judenfetisch“ beziehe sich auf einen Philosemitismus als Kehrseite des Antisemitismus. „Es gibt Menschen, die aus sehr aufrichtigen und positiven Gründen diese Nähe zum Judentum suchen.“ Mit der Last des Holocaust auf den Schultern suchten sie Halt und Heilung. Andere begriffen die Konversion dorthin als Mittel zur Macht, Unangreifbarkeit und Deutungshoheit. Feldman erkennt eine hierzulande „übertriebene Identifikation mit Israel“ und fragt, wie sich der Missbrauch des Umstandes vermeiden lasse, „dass das Judentum in Deutschland so überhöht wird und unangreifbar ist“.

Feldmans Geschichte „Unorthodox“ wurde Weltbestseller

Feldman setzt sich zwischen alle Stühle, behauptet sich dort als frei denkendes und fühlendes Individuum. Schon „Unorthodox“, ihr Weltbestseller, war „hauptsächlich eine Geschichte vom Versuch eines Menschen, der in einem Kollektiv gefangen ist, sich als Individuum zu entfalten“. Feldman hatte sich mit ihrem Sohn aus der abgeschottet in New York lebenden ultra-orthodoxen jüdischen Gemeinde befreit, in der sie bei den Großeltern, Überlebende des Holocausts, aufwuchs, bevor sie verheiratet wurde. 2014 kam sie nach Deutschland, wo sie durchaus Wertschätzung für das nie gekannte Interesse am Jüdischen spürte, bis sie merkte: „Hier bin ich nicht so sehr das Individuum, das sich vom Kollektiv befreit hat, hier bin ich eine Vertreterin dieses Kollektivs.“

Als Staatsbürgerin eines Landes, wo sie oft von Erinnerungskultur stark geprägten Menschen begegne, versuche sie, gewisse Fragen für sich selbst zu beantworten. Woraus eine neue Frage erwächst: „Warum sind meine Antworten so weit weg von den offiziellen, von den kollektiven Antworten, die immer wieder abgespult werden.“ Diese Kontroverse wollte Feldman „auf nette und verdauliche Art“ in einen Roman packen, für den sie 2022 auch in Israel recherchierte, doch sei sie „noch nicht so weit, die Dinge für andere bequem zu machen“.

„Judenfetisch“: autobiografisch grundierter Langessay voller Suchbewegungen

So entstand „Judenfetisch“, ein Buch, das selbst nicht so genau weiß, was es sein will – ein autobiografisch grundierter Langessay vielleicht – das nicht sonderlich dicht und stringent daherkommt, dafür oft bissig und satirisch, das derart aber Feldmans Suchbewegungen gut abbilden kann. Sie betreibt, was Hannah Arendt Denken ohne Geländer nannte: auch in Erfurt, wo sich ein bemerkenswerter Abend ereignet, obwohl oder auch weil Literaturkritiker Andreas Platthaus auf viele Regeln der Moderation pfeift, selbst nur wenige, aber prägnante Fragen stellt, Feldman lange reden lässt und sehr bald ins Publikum öffnet.

Nach anderen meldet sich Reinhard Schramm von der jüdischen Landesgemeinde: Ihrem Buch entnehme er viel Anregendes, er liest aber auch eine gefährliche Kritik daraus, Juden bekämen in Deutschland zu viel öffentliches Geld. Feldman widerspricht: Das Geld gehe nur oft nicht dorthin, wohin es solle. Die Kontroverse macht sich am im Buch prominent auftretenden Walter Homolka fest: als Konvertit bis 2022 „mächtigster Rabbiner des Landes“ auch bei der Geldverteilung. Feldman wundert sich im Buch, „dass die Konvertiten komischerweise alle an Machtpositionen gelangt sind“ und in Erfurt, „dass es Nichtjuden sind, die für Juden sprechen dürfen.“

Im Disput mit Reinhard Schramm von der jüdischen Landesgemeinde

Schramm artikuliert auch seine Angst angesichts der Feste, die Muslime nach dem Hamas-Massaker an 1200 Israelis etwa in Berlin feierten. „Ich teile ihre Angst, ich teile ihren Schmerz“, sagt Feldmann und fragt Schramm dann ihrerseits nach tanzenden Israelis Soldaten an Grenze zu Gaza, wo Lebensmittelhilfen behindert wurden. „Das ist unmenschlich“, so Schramm, „das muss man genauso verurteilen.“

Feldman warnt vor orthodoxen Juden, die eine Theokratie in Israel anstrebten. Diesen Staat brauche es gleichwohl. Doch „dass wir den Staat aufrechterhalten auf Kosten des Leidens andere Menschen, ist ein Problem“. Da brauche es neue Ansätze. „Judenfetisch“ ist auch in diesem Zusammenhang ein Exempel dafür, „wie Identität an sich in unserer Welt zunehmend fetischisiert wird“, wie Feldman schreibt. „Dass sich das Individuum dahinter auflösen soll, ist ein gefährliches Merkmal unserer Zeit“, sagt sie in Erfurt.

Von Michael Helbing veröffentlicht zuerst auf TA online am 15.03.2024

 

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