+49 361 644 123 75
Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
März 21 2024

Tatort Frühlingslese: Schauspieler Jörg Hartmann debütiert als Buchautor

Vom Lärm des Lebens

Gemeinsam mit seiner kongenialen Gesprächspartnerin Margarete von Schwarzkopf bezauberte Jörg Hartmann das Publikum im Atrium der Stadtwerke. (Foto: Uwe-Jens Igel)
Gemeinsam mit seiner kongenialen Gesprächspartnerin Margarete von Schwarzkopf bezauberte Jörg Hartmann das Publikum im Atrium der Stadtwerke. (Foto: Uwe-Jens Igel)

Von Sigurd Schwager

Weil dieser Erfurter Frühlingslese-Abend getragen wird von Erinnerungen in den Farben des Ruhrpotts, soll auch der Bericht mit einer solchen beginnen: 2012. Es ist Frühling und Dortmund bebt. Hier befindet sich gerade das schwarzgelbe Epizentrum des deutschen Fußballs. Erst holt der BVB wieder die Meisterschale, anschließend gleich noch den Pokal.

Dem Double vom Mai folgt im September noch ein dritter Titel-Moment, der zwar keine Glückshormone ausschüttet, aber ebenso als Blickfang für Millionen taugt. Denn am ersten Herbstsonntag erhält Dortmund die höchsten deutschen Krimiweihen als „Tatort“-Stadt und legt einen meisterhaften Start hin, für den es Top-Quote und Top-Kritiken gibt.

Aus dem neuen Ermittler-Quartett ragt dabei ein Typ heraus: „Peter Faber, grandios gespielt von Jörg Hartmann. Am Anfang ist er die klassische Kotztüte, aber schon in dieser ersten Folge darf er sich entwickeln. Aus dem Zerstörer wird der Zerstörte.“ Wie die Süddeutsche zeigt sich damals auch der Spiegel heftig beeindruckt vom runtergerockten „Kommissar Kaputtnik“ und fordert: „Bitte weiter so!“ Der Wunsch wird sich erfüllen.

Elfeinhalb Jahre später, am ersten Frühlingstag 2024 und wenige Wochen nach Fabers 25. Fall, ist das weitläufige Atrium der Erfurter Stadtwerke komplett ausverkauft und die Vorfreude auf Jörg Hartmanns Auftritt in der heutigen „Tatort“-Diaspora Thüringen hör- und greifbar. Natürlich lockt hier stark die Neugier auf den düsteren Dortmunder Kommissar. Andererseits hat der einst in Sichtweite von Dortmund geborene und aufgewachsene Mime im Theater, Kino und Fernsehen schon vor Faber-Zeiten und seither immer wieder eindrucksvoll seine Brillanz als Charakterdarsteller bewiesen, man denke nur an seinen Stasi-Offizier Falk Kupfer im Serien-Hit „Weißensee“.

Dass Jörg Hartmann jetzt die Zuwendung des Erfurter Publikums merkbar berührt und er sich fast schüchtern verbeugt, ist kein Kokettieren eines Erfolgsverwöhnten. Der preisgekrönte Schauspieler betritt die aktuelle Bühne als Debütant. Auf dem Tisch liegt ein Buch. Sein Buch. Man kann die Verkaufstage noch an einer Hand abzählen.

Lampenfieber muss er aber nicht haben. Ihm zur Seite sitzt Margarete von Schwarzkopf, oft und gern in Erfurt gesehene Publizistin und gesegnet mit feinstem Gesprächstalent. Wie sich das anfühle, Autor zu sein, fragt sie Jörg Hartmann. Es sei wirklich Neuland, antwortet dieser. Hier, so nah am eigenen Leben, könne er sich nicht hinter einer Rolle verstecken. „Lärm des Lebens“ – ein wirklich schöner Titel, lobt die Moderatorin. Den, sagt Hartmann zufrieden, habe er selbst ausgesucht. Das Leben als Baustelle, voller Trubel. Er formt daraus unterhaltsame Erinnerungsprosa von beachtlicher Qualität.

Anlass für das Buch sei der Tod des Vaters 2018 gewesen, erzählt Jörg Hartmann. Mit ihm, so habe er befürchtet, würden all die Geschichten verschwinden. Er zitiert zwei Sätze aus seinem Buch, die Versäumtem gelten: „So ist es, wenn man neben dem Bahnhof wohnt. Man verpasst jedes Mal den Zug, weil man meint, endlos Zeit haben.“

Dann schaut Jörg Hartmann in den Saal und fragt, ob im Publikum jemand aus Meiningen sei? Ja, meldet sich eine Frau. Ob man sich vielleicht kenne? Nein, sagt sie, dafür sei sie zu jung. Meiningen ist für den Schauspieler von 1994 bis 1996 der Thüringer Teil vom Lärm des Lebens, denn auf der hiesigen Bühne, immerhin Geburtsstätte des modernen Regietheaters, startet er nach dem Studium ins Berufsleben.

Davon liest er nun 30 Jahre später in Erfurt. „(...) hinunter nach Thüringen. Da war er also der Osten. Seit vier Jahren schon konnte man ungehindert hin und her, und doch, es war noch lange keine Selbstverständlichkeit. Ein Wunder. Noch immer. (...) So aufregend ich den Osten fand, so frustrierend war mein erstes Jahr im Haus. Ich bekam nichts Ordentliches zu spielen, wurde abgefrühstückt mit Statistenrollen.“ Das bleibt nicht so, wie man hören und nachlesen kann. In der zweiten Spielzeit bekommt er die großen Rollen, zieht weiter. Mannheim. Berlin.

Im Wechsel mit launigem Gespräch verwandeln gelesene Buchszenen das nüchterne Atrium durch die Vortragskünste des Gastes in eine große Ein-Mann-Bühne. Auf ihr erfährt man viel von den Brettern, die die Welt bedeuten und noch viel mehr vom Leben der Eltern und der gehörlosen Großeltern. Der Lärm des Lebens eine Liebeserklärung an die Kraft der Familie und an den Ruhrpott? „Absolut!“ sagt Jörg Hartmann.

Der Höhepunkt des Erfurter Abends gelingt ihm, als der aus dem Buch den Wiedersehensabschied vom Vater imaginiert: „Der Leichenschmaus fand bei Albert statt. (...) Je länger wir zusammensaßen, desto gelöster wurde die Stimmung, und es passierte etwas, das ganz im Sinne meines Vaters gewesen wäre: Alle lachten sich scheckig. Alberten herum, dass sich die Balken bogen. (...) Ein Ton aus der Kindheit, schon verloren geglaubt, war mit einem Mal wieder da.“ Später singt ein westfälischer Katzenchor, schief, aber mit Überzeugung: „Weißt du nicht wo Herdecke liegt? An dem Speicherbecken. (...) Wo man trinkt die Halben aus, die so leeeeecker schmecken!“  Und weil der Papa leider nie mehr auf den Tisch klettern kann, steigt die Trauergemeinde für ihn auf die Stühle.

Es gibt Szenenapplaus. Man möchte gar nicht aufhören mit dem Zuhören, weshalb zum Ende hin das Publikum zugunsten von weiterem wunderbaren Lebenslärm gern auf eigene Fragen verzichtet. Kann man schließlich beim Signieren nachholen. Und dass dieser sympathische Mittfünfziger, in dem so viel Humor steckt, seinen Ermittler-Vertrag als Kommissar Faber bis Ende 2026 verlängert hat, ist schon wohlwollend zur Kenntnis genommen worden.

Man sieht sich also wieder. Im Herbst beim nächsten Dortmunder „Tatort“, vielleicht auch in der Berliner Schaubühne. Oder irgendwann wieder lesend in Thüringen. „Ich würde schon gerne weiterschreiben, eher einen Roman“, hat er nämlich in Erfurt verkündet.

Rauschender Beifall zum Abschied.

Jetzt Artikel bewerten!

  • 0 / ø 0

0 KommentareNeuen Kommentar schreiben

  • Bisher wurden noch keine Kommentare geschrieben

Allgemein

Erfurter Herbstlese ist verantwortlich für die Moderation und das Löschen von Kommentaren.

Bitte beachten Sie unsere Netiquette.

Alle Kommentare werden, bevor sie erscheinen, von einem Moderator bzw. einer Moderatorin geprüft.

Datenschutz

Unsere Datenschutzerklärung beschreibt, wie Ihre persönlichen Daten erfasst und verarbeitet werden.

Neuen Kommentar schreiben

Bitte melde Dich an, um einen Kommentar zu schreiben.

Über uns

Erfurter Herbstlese e.V. - Es lebe die Erfurter Herbstlese!

Unser Literaturverein organisiert seit 1997 die Erfurter Herbstlese, die zu den großen literarischen Veranstaltungsreihen in Deutschland gehört. Es lebe die Erfurter Herbstlese!

Öffnungszeiten

  • Kultur: Haus Dacheröden:
    Di bis Fr: 12.00 - 17.00 Uhr
    Sa: 10.00 - 17.00 Uhr
    Telefonische Erreichbarkeit:
    Mo - Fr: 09.00 - 17.00 Uhr
    Sa: 10.00 - 17.00 Uhr

Unsere Partner & Sponsoren

Gefördert durch