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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 13 2023

Jan Weiler erzählt nicht nur Geschichten aus der Jungs-WG

Älternzeit im Atrium

„Erfurt! Erfurt! Erfurt!“ - der Abend mit Jan Weiler im Atrium der Stadtwerke endete erst nach viel Vergnügen und zwei Zugaben. (Foto: Uwe-Jens Igel)
„Erfurt! Erfurt! Erfurt!“ - der Abend mit Jan Weiler im Atrium der Stadtwerke endete erst nach viel Vergnügen und zwei Zugaben. (Foto: Uwe-Jens Igel)

Von Sigurd Schwager

Die Herbstlese 2023 hält es mit Goethe: „Doppelt gibt, wer gern gibt.“ Denn diesmal sind mit Jan Weiler und Stefan Schwarz zwei Stammgäste eingeladen, der eine im Oktober, der andere im November, deren Kommen bei all jenen für doppelte Freude sorgt, die ebenso launig wie lässig erzählte (fiktionale) Alltags- und Familiengeschichten lieben. Genau davon reihen beide Autoren seit vielen Jahren Buch an Buch der erbaulichen Art.

Und weil die Herren einer Altersklasse angehören, die sich ganz langsam der 60 nähert, spielen sie mit ihren jüngsten Werken Herbstlese-Doppelpass. Während Kolumnist Schwarz das nunmehr geschlossene Elterntheater ankündigt, titelt Kolumnist Weiler, den Band „Die Ältern“ fortsetzend, „Älternzeit“.

Damit wechselt der Berichterstatter zum Erfurter Solo für Weiler und dessen aktueller Beschreibung, wie Eltern sich in der Älternzeit zu behaupten versuchen. Natürlich ist das weitläufige Atrium der Stadtwerke ausverkauft, und niemand im Publikum zweifelt am Wort von Herbstlese-Programmchefin Monika Rettig, die begrüßend feststellt, dass nicht nur das Lesen von Weiler-Büchern viel Spaß mache, sondern mindestens genauso viel das Begängnis, ihm beim Vorlesen gemeinschaftlich zuzuhören.

„Erfurt! Erfurt! Erfurt!“ genießt Jan Weiler den wogenden Applaus, erinnert gern an frühere hiesige Auftritte und ausführlich an den letzten vor fast auf den Tag genau vier Jahren. Wie sich doch seit Oktober 2019 die Welt verändert habe: Damals regieren eine Kanzlerin das Land und der Atomstrom-Gegner Markus Söder den Freistaat Bayern. Wo ganz genau die Ukraine liegt, ist noch kein geografisches Allgemeingut und das Wissen über Gasspeicher erst recht begrenzt. In seine Rückschau bezieht Jan Weiler auch den heimischen Fußballclub Rot-Weiß ein, dessen traurige Regionalliga-Tage gezählt sind. Ob noch jemand den Trainer kenne, fragt er in den Saal, und antwortet selbst: Thomas Brdaric, ein Ex-Nationalspielspieler, der heute in Kuweit beim Al-Arabi SC sein Geld verdiene.

Solcher Kenntnisreichtum kommt nicht von ungefähr. Schließlich ist Fußballfreund und Bayern- München-Fan Weiler als Autor des Buches „Gibt es einen Fußballgott?“ auffällig geworden. Auch wer jetzt „Älternzeit“ aufschlägt, landet unverzüglich beim Fußball: Vertragsende als Familienvater in Sicht! „Mein Karriereende naht, auch wenn ich mich topfit auf meiner Position fühle (...) Ich bin noch Stammspieler, aber das ist eine Frage der Zeit. Als Sara und ich beschlossen, nicht mehr zusammenzuwohnen, zog unsere Tochter mit zu ihr und unser Sohn Nick eröffnete mit mir eine Jungs-WG. Carla ist inzwischen bei Sara ausgezogen und Nick droht andauernd, dasselbe bei mir zu tun...“

Die literarische Ausgangslage ist zugleich eine reale, die der Autor zu anderer Gelegenheit in einem Interview so beschreibt: „Wir haben uns für dieses Modell entschieden. Und das klappt sehr gut.“ Aber die Geschichten, die sich aus dieser Konstellation ergeben und auf der Herbstlese-Bühne in Teilen vorgestellt werden, spiegeln natürlich nicht das wahre Leben in all seine Facetten wider.

Der Lese- und Hörgenuss erwächst aus der Wiedererkennbarkeit der Szenen und ihrer heiteren Grundierung, wobei der Vortragskünstler Weiler dem Autor Weiler ein kongenialer Partner ist. Glucksen, kichern, lachen, Szenenapplaus - schon nach wenigen Leseminuten dominiert im Saal eine ansteckende Fröhlichkeit, die bis zum finalen Beifall erhalten bleibt.

Etwas Ruhe herrscht zur Halbzeitpause, in der Weiler wie immer bereits fleißig signiert, wie immer mit dem Hinweis versehen, dass er gern auch Autogramme in Bücher anderer Autoren schreibe. Im Vergleich zu früheren Erfurter Lesungen nennt er als Beispiele dafür zwei neue Namen, Ildiko von Kürthy und Ferdinand von Schirach. Nur Sebastian Fitzek hat offenbar einen Stammplatz. Obendrein gehören variable Datierungen für benötigte Alibis zum Full-Service.

Wenn Jan Weiler in Erfurt liest und plaudert, dann sind die Übergänge fließend. Man nimmt Anteil, wenn er durch sämtliche Stahlbäder hüpft, die der Alltag aufstellt, oder wenn er mit dem 20jährigen Pubertier Nick mehr oder minder erfolgreich die To-do-Liste des Lebens absolviert. „Jungs-WG“ ist dabei ein Schlüsselwort für das Buch wie für den Abend. Die anstrengende „Älternzeit“ durchlebt hier ein Mann, der sich keinesfalls alt fühlt, wohl aber von anderen unentwegt und zu Recht als alt wahrgenommen wird. Ein Dilemma, das den Damen und Herren im Saal aus eigenem Erinnern gut bekannt sein dürfte. Schön, dass man im Atrium einmal gemeinsam darüber lachen darf. Und über die anderen Geschichten auch.

Mit einer der zwei Zugaben kehrt der Autor zurück zum Anfang des Abends. Er liest die am 2. Dezember 2019 erschienene Kolumne Nr. 659 seiner Langzeitreihe „Mein Leben als Mensch“. Die Geschichte handelt in einem Zug zwischen Itzehoe und Hamburg und erzählt von einem Mann, der mit seiner Gattin telefoniert und merkwürdige Sätze spricht: „Man fährt nicht nach Büsum, wenn man das nicht will (...) Und dann fährt die nach Büsum!“ Eine wunderbare Geschichte, die das Büsum-Rätsel nicht auflöst, deren Pointe darin besteht, keine zu haben.

Nach mehr als zwei Stunden ist die muntere, aufmunternde Feier der Älternzeit leider vorbei und Nick über alle Berge. Für Jan Weiler gibt es jede Menge Beifall, die obligate Schokolade und als Zugabe ein Porträt, angefertigt vom Erfurter Künstler Karsten Kunert.

Fortsetzung folgt? Man darf es hoffen und vermuten. Mit einem neuen Roman oder mit neuen Kolumnen? Man wird sehen. Und wer von Jan Weiler gar nicht genug bekommen kann, sollte ihn in seinem Netz-Archiv besuchen, wo „Mein Leben als Mensch“ 859mal versammelt ist. Kolumne 860 hat er schon geschrieben - am Tag vor dem Auftritt im Atrium.

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