„Zwangserholung“ ohne Technik: Birgit Vanderbeke bei der Frühlingslese
Alle, die vor uns da waren

Von Vanessa-Marie Starker (*)
Birgit Vanderbeke stellt im Kultur: Haus Dacheröden ihre Erzählung „Alle, die vor uns da waren“ vor. Die oft traurige und melancholische Geschichte, wirkt an manchen Stellen auch ungewollt komisch. Die Erzählerin wird in das Ferienhaus des Schriftstellers Heinrich Böll eingeladen und verbringt dort drei Wochen. Ohne Internet, Telefon oder Radio verschwindet mit der Zeit der Trubel ihres normalen Alltags. Der autobiographische Roman basiert auf Vanderbekes eigenem Aufenthalt in dem irischen Ferienhaus des Nobelpreisträgers.
Vanderbeke bezeichnet diese techniklose Zeit als „Zwangserholung“. Die Erzählerin nutzt sie, um sich intensiv mit den Veränderungen unserer Zeit auseinanderzusetzen. So folgt sie den Erinnerungen an ihre Großmutter, an befreundete Schriftsteller und „alle, die vor uns da waren“ und spürt den Fäden und Verbindungen zwischen den Generationen nach.
Die Textstelle, die Vanderbeke dem Publikum im Kultur: Haus Dacheröden vorliest, beschreibt das Treffen der Erzählerin mit dem längst verstorbenen Heinrich Böll. Während sie am Esstisch sitzt, sieht sie plötzlich, wie Zigarettenqualm aus seinem Arbeitszimmer unter der Tür hindurchkommt. Sie entschließt sich dazu, in das Zimmer zu gehen. Sie stößt auf Böll, der rauchend an seinem Schreibtisch sitzt und der Erzählerin eröffnet, dass sie „alle“ bei ihr sind. Auf die Frage, wer denn „alle“ seien, erklärt er, alle, die vor ihr da waren. Die Erzählerin ist verwirrt. Sie weiß damit zunächst nichts anzufangen.
Auf der Suche nach einem Lebensmittelladen landet die Erzählerin mit ihrem Gefährten Gianni in einem Pub. Sie wird auf eine Gruppe aufmerksam, die an einem Tisch sitzt. Es wird Gälisch gesprochen. Für sie ist das wie Finnisch oder Baskisch: „Von außen kann man nicht glauben, dass Menschen sich damit verständigen können. Vielleicht können sie es auch nicht.“
Im anschließenden Gespräch mit ihrem Publikum, erläutert Vanderbeke, dass sie wirklich einer Einladung in Bölls Ferienhaus gefolgt war. Sie selbst kannte den Schriftsteller jedoch nicht persönlich. Die drei Wochen, die sie, abgeschnitten von der digitalen Welt, auf der grünen Insel verbracht hat, hätten ihren Blick auf die Welt beeinflusst. Mehrmals wird deutlich, dass sie sich nicht sicher ist, ob es für unsere Welt noch Fünf vor oder nicht schon Zehn nach Zwölf ist. Für sie werde es immer schwerer, einen eigenen Erzählweg zu finden, räumt die Autorin ein. Nach Irland hatte sie sogar darüber nachgedacht, mit dem Schreiben ganz aufzuhören. Doch sie könne gar nicht anders, als zu erzählen. Die Verarbeitung ihrer irischen Zeit bot sich gerade zu an, da sie sich auf der Insel mit der fehlenden Infrastruktur „wie Robinson Crusoe“ gefühlt habe.
(*) Vanessa-Marie Starker studiert Literatur und Geschichte an der Universität Erfurt. In den Semesterferien absolviert sie ein Praktikum beim Verein "Erfurter Herbstlese". Als „lonelyThougt“ betreibt sie ihren eigenen Blog.
Birgit Vanderbeke bei der Frühlingslese 2019
Fotos: Uwe-Jens Igel