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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Sept. 03 2020

Buch ohne Lesung: Botaniker begeistert das Sommerbühnen-Publikum

Der fabelhafte Feder

Vollblut-Botaniker Feder im Einsatz.
Vollblut-Botaniker Feder im Einsatz.

Von Sigurd Schwager

Am Abend des 271. Goethe-Geburtstages füllt sich der lichte Hof jenes Erfurter Hauses, in dem der Dichter so oft zu Besuch war, mit gut gelaunten Gästen. Allerdings sind sie nicht zum Dacherödschen Gemäuer am Anger 37gekommen, um den weltberühmten Alten vom Weimarer Frauenplan zu feiern. Stattdessen lädt hier die Sommerbühne zu einer Expedition ins Pflanzenreich. Was durchaus im Sinne des abwesenden Herrn von G. sein dürfte, schließlich kennt man ihn auch als respektablen Botaniker. „Die Pflanze“, lehrt uns Natur- und Gartenfreund Goethe, „gleicht den eigensinnigen Menschen, von denen man alles erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behandelt.“ Und zu anderer Gelegenheit notiert er: „Alles ist gut, wie es aus den Händen der Natur kommt!“.

Der Natur nicht ins Handwerk pfuschen: Da hat Goethe im eigensinnigen Menschen Jürgen Feder einen Wahlverwandten. Dem als Extrembotaniker angekündigten Mann widmet Herbstlese-Chef Dirk Löhr zum Auftakt des Sommerbühnen-Abends eine warmherzige Extrembegrüßung. Sie gründet auf das Erinnern an Feders furiose Herbstlese-Premiere vor sechs Jahren. Ein Feder-Auftritt, sagt Löhr, sei das Beste, was man dem geschätzten Publikum bieten könne, nämlich einen tollen Abend. Versprochen! Am Ende wird man ihn dezent korrigieren müssen, denn er hat wohl doch ein wenig untertrieben.

Aber der biografischen Reihe nach. Jürgen Feder, geboren 1960 in Flensburg, Sohn einer Dänin, Diplom-Ingenieur für Landespflege, Flora und Vegetationskunde, arbeitet lange Jahre in einer Gärtnerei. Weil seine Pflanzenleidenschaft keinen Feierabend kennt, lebt er sie aus, indem er durch seine norddeutsche Heimat streift und Pflanzen kartiert. Zugleich lässt er andere an seinen Wegen übers Land teilhaben, schreibt über die wildwachsenden Farn- und Blütenpflanzen im Landkreis Wesermarsch, die Blumenbinse in Niedersachsen und Bremen, den schmalblättrigen Milchstern und den Wiesen-Schachtelhalm in Niedersachsen, porträtiert die spontane Flora des Bahnhofs Leer und die der Dörfer Ostfrieslands... Ein botanischer Beitrag folgt dem anderen, jahrein, jahraus.

Dann, Feder ist inzwischen Anfang 50, wird das Regionalfernsehen auf den umtriebigen Pflanzenfreund aufmerksam, begleitet ihn bei seinen Erkundungen der Autobahn-Flora. Eine NDR-Nordstory entsteht. Den Film wiederum sieht Stefan Raab und dabei im schrägen Pflanzensucher Potential für Zuschauer-Belustigung im Fernsehen. Also holt er Ende Januar 2013 Jürgen Feder in seine Sendung „TV total“. Doch dieser präsentiert sich dort als das Gegenteil einer Lachnummer. Mit Wissen und Witz ausgestattet, stellt er Pflanzen vor, wirbt temperamentvoll für seine Lieblinge, zeigt sie auf Fotografien. Damit trifft er offensichtlich den Nerv des Publikums, das ihn stürmisch feiert. Auch von Stefan Raab gibt es hinterher Komplimente.

Nun geht alles ganz schnell. Wenige Tage nach dem großen öffentlichen Auftritt kündigt Feder seinen Job, um das Hobby zum Beruf zu machen. Er wagt und gewinnt. Heute ist er einer der bekanntesten Botaniker im Lande und keine Talkshow vor seiner Pflanzenliebe sicher. Er reist und sucht und sammelt, führt Gruppen und hält Vorträge. Und schreibt.

Bereits 2014 erscheint sein erstes Buch: „Feders fabelhafte Pflanzenwelt - Auf Entdeckungstour mit einem Extrembotaniker“, 2016 das zweite, „Feders fantastische Stadtpflanzen“. 2017 folgt „Feders kleine Kräuterkunde - Das Essen liegt auf der Straße“ und 2019 „Feders Charakterkunde der Pflanzen - Von Diven, Dränglern und fleißigen Lieschen".

Sein neues, sein fünftes Buch heißt „Der Pflanzenretter“, trägt den Untertitel „Warum sogar Gänseblümchen wichtig für die Artenvielfalt sind“ und stellt 111 Pflanzen vor, die Feder so wichtig sind, dass er sie auf seine „Arche Jürgen“ mitnehmen würde. Natürlich hat auch Frohnatur Feder mit seiner Nr. 5 unter den pandemistischen Umständen anno 2020 zu leiden: geschlossene Buchläden, ausgefallene Buch-Präsentationen, abgesagte Botanik-Safari-Touren. Wenigsten seine herbstlichen Pilzexkursionen sollen stattfinden.

Umso erwartungsfroher sitzt jetzt das Publikum im Dacherödschen Hof auf den Stühlen und auf Abstand zum Nachbarn. Jürgen Feder stellt zunächst einmal freundlich, aber bestimmt klar, was er auf gar keinen Fall tun werde, nämlich aus seinem neuen Buch vorlesen. Die Helden seiner Erzählungen warten derweil auf einem Tisch in verschiedenen Gläsern auf ihren Einsatz: Allerlei Pflanzen, die er in den letzten Tagen auf dem Weg nach Erfurt und in der Stadt gesammelt hat.

Doch sie müssen sich noch etwas gedulden. Feder läuft zügig zur Hofbegrenzung, wo es kräftig grünt, und rupft einen vielblättrigen Stiel ab. Leichtes Erschrecken. Doch Feder beruhigt das Publikum: Dies sei ein Stück vom Götterbaum, auch Ghetto-Palme genannt. Wer durch Erfurt gehe und sich umschaue, der sehe das asiatische Gewächs unentwegt in die Höhe und in die Breite wuchern. Er reicht das grüne Teil einer Besucherin: Riechen Sie mal! Tatsächlich, stinken tut er auch.

Nach dem Prolog kann die eigentliche Expedition durch Feders Pflanzenreich beginnen. Wie schon bei seinem Erfurter Gastspiel von 2014 führt die Reise auch 2020 ausführlich in den Naturpark Kyffhäuser, wo mehr als 1000 Pflanzenarten wachsen und blühen. Vergessen Sie den Thüringer Wald, sagt Feder, im Thüringer Norden ist es für den Botaniker am besten. Er holt Leinkraut, Salzkraut – einen Steppenroller - und Drüsenblättrige Kugeldisteln aus den Gläsern, hält sie hoch, erklärt und reicht sie weiter an seine Zuhörer. Zudem macht noch ein vergilbtes Heft die Runde, in dem Feder handschriftlich seine Kyffhäuser-Entdeckungen dokumentiert hat.

Nachgerade ins Schwärmen gerät der Herr der Pflanzen, wenn er über Arterns Solgraben spricht, das kleinste Naturschutzgebiet seiner Art in Europas. Ein Steinsalzlager speist die Solequelle und sorgt im Binnenland für Pflanzen, die sonst fast nur an den Meeresküsten vorkommen. Feder hat Salzmelde, Salzbinse, Strandaster und andere mitgebracht. Sie wandern von Hand zu Hand durch die Stuhlreihen. Denn Anfassen ist ausdrücklich erlaubt. Die Leute, klagt Feder, fassen heute nichts mehr an, die Kinder nicht und auch nicht die Erwachsenen. Sie haben es leider verlernt. An anderer Stelle rät er ebenso dringend zu mehr Abstand. Sein Tipp für den heimischen Garten: Machen Sie nichts! Seien Sie faul und lassen Sie der Natur ihren Lauf. Alles hat seinen Nutzen.

Je länger man Feder lauscht, der wohl zu jeder Pflanze eine spannende Geschichte kennt, desto mehr wird aus dem Zuhörer ein Expeditionsteilnehmer. Während der Berichterstatter das gerade zu ihm gelangte filigrane Salzhasenohr betrachtet, muss er an eine „Zeit“-Reportage denken, in der Jürgen Feder seine Wandergruppe mit den Worten „Ran an die Pflanzen, riechen, schmecken fühlen“ begrüßt und der staunende Reporter beim Rundgang anmerkt: „Es wirkt, als lese er aus der Natur vor, einen Quadratmeter nach dem anderen.“

So geht es einem auch auf dem Hof im Erfurter Zentrum, während die botanischen Gläser sich nach und nach leeren. Das gewöhnliche Bitterkraut und das Federgras, der Feldbeifuß und der Teufelszwirn, die Fuchsrote Borstenhirse und die Gewöhnliche Hundszunge, das Kleine und das Japanische Liebesgras, die Sichelmöhre und der Unechte Gänsefuß, die Binse und die Simse... Die reine Poesie der Erkenntnis. Alle Pflanzen sind schön, fasst Feder zusammen, und wo es mal nicht so toll ist, da sind wir Menschen schuld.

Nach reichlich zwei Stunden ist das schlaue Heft zurück bei seinem Besitzer, der verkündet: Jetzt können wir Schluss machen. Macht er aber noch nicht. Es folgt eine Zugabe, die von der Geschichte der Binsenweisheit handelt und vom in die Binsen gehen.

Auch das erzählt er mit vollem Einsatz von Geist und Körper. Das Publikum, das Jürgen Feders ansteckender Begeisterung gern erlegen ist, dankt ihm mit viel Applaus für einen ebenso interessanten wie amüsanten Abend. Selten so viel gelernt und dabei selten so viel gelacht, denn der Naturfachmann ist ein Entertainer-Naturtalent. Botanik trifft Comedy.

Eigentlich eine schöne Kombination für ein Hörbuch oder eine DVD. Die gibt es noch nicht. Aber man greift auch gern zum neuen Buch „Der Pflanzenretter“. Weil er nicht die ganze Welt retten könne, schreibt Feder dort im Vorwort, beschränke er sich auf das, wo er sich auskenne.

Wer ihn erlebt hat, folgt ihm gern auf seine „Arche Jürgen“.

Jürgen Feder auf der Sommerbühne

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