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März 14 2015

Tex Rubinowitz im Café Nerly

Die Lebenslüge der Clowns

Der Norddeutsche Tex Rubinowitz lebt und arbeitet seit über drei Jahrzehnten in Wien.
Der Norddeutsche Tex Rubinowitz lebt und arbeitet seit über drei Jahrzehnten in Wien.

Der Autor steht am Eingang zum Saal und begrüßt sein Publikum. Jedem, der seine Karte abreißen lässt, bietet er einen freundlichen Händedruck an. Richtig muss es heißen, jeder, denn zur Lesung mit Tex Rubinowitz im Café Nerly kommen fast ausschließlich Frauen. Die meisten schauen erfreut, fast alle sind überrascht, die eine oder andere erschrickt sich auch ein wenig. Das geht ja gut los, mögen sie denken, was kommt denn jetzt noch?

Eine Frage, die sie mit dem Protagonisten des Abends teilen. „Irma“, das Buch, das Tex Rubinowitz vorstellt, ist gerade ein paar Tage auf dem Markt. Wie wird die Leserschaft darauf reagieren, wie die Kritik?

Die Entstehung des Textes lässt sich auf zweierlei Art erzählen. Die kurze: Tex Rubinowitz beteiligt sich an der 2014er Ausgabe des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. Er gewinnt. Der Verlag bittet ihn, aus seinem Wettbewerbsbeitrag ein ganzes Buch zu machen; schließlich, so ein Preisträger verkauft sich ja gut. Der Autor schreibt, 236 Seiten sind es am Ende. Ein schönes Buch.

Die andere Entstehungsgeschichte beginnt vor etwa 50 Jahren im Nordwesten des damals noch geteilten Landes. Der spätere Autor wächst nicht glücklich auf. Sein Vater, bekennt er seinem Erfurter Publikum freimütig, war ein Arschloch. Die beste Kindheitserinnerung klingt eher verstörend als schön – das gemeinsame Kauen von roher Rinderleber, die der Vater in der Nacht nach der Schlächterei in der Freibank nach Hause bringt. Rohes, dunkelbraunrotes Fleisch, das beide solange mit den Zähnen bearbeiten, bis alles Blut hinausgebissen ist und der weiße Gummirest befriedigt ausgespuckt wird. Ansonsten Schläge, Tristesse, ausreichend Traumata für ein beginnendes Leben. Die Schulzeit endet mit dem Rauswurf.

Der spätere Autor arbeitet nur so viel, wie er Geld zu Reisen braucht. Dann kommt noch der Wehrdienst, der Umzug nach Wien, der Abbruch des Kunststudiums nach nur einer Woche. Das Leben für die Kunst macht ihn zum Lebenskünstler, er zeichnet Witze und schreibt Texte für die Werbung, er singt und musiziert mit seiner Band, probiert sich als Schauspieler und vieles mehr. Er schreibt und zeichnet, zeichnet und schreibt. Seine Texte werden veröffentlich, es finden sich Förderer.

Regelmäßig ist er in Klagenfurt, bis er gefragt wird, ob er nicht einmal selbst am Wettbewerb teilnehmen möchte. Ab hier gilt wieder Entstehungsgeschichte Version eins.

Nun mag man meinen, dass solch eine Vita genug Stoff für 236 Seiten bietet. Das tut sie, gar keine Frage. Doch der Mann auf der Bühne trägt ja nicht seinen Lebenslauf vor, es geht um Literatur. Und so sehr er auf die Parallelen seines Lebens zu den Geschehnissen im Buches hinweist, er die Tätowierung auf seinem Unterarm zeigt, die auch der Text kennt, um so sehr ist er doch auch auf eine letzte Distanz bedacht. Die da im Publikum können alles von ihm lesen – aber müssen sie deshalb alles von ihm wissen?

Wer „Irma“ liest, spürt die Zweifel des Autors. Ein Text, der zu Literatur werden soll, wird keine, ist darin sinngemäß zu lesen. Oder das traurige Eingeständnis, anders zu sein. Im ersten Kapitel, das Tex Rubinowitz im Nerly vorliest, heißt es zum ewigen Thema jedes Künstlers, ein Außenseiter zu sein: „Leide nicht darunter, sondern versteh es als dein Kapital – die Lebenslüge der Clowns.“

Leider erweist sich das Nerly an diesem Abend nicht als idealer Vorleseort. Die Größe des Saales nimmt den Worten ihre Dringlichkeit. Der Vorleser rettet sich in Scherze, greift schließlich zu einem anderen Buch. „Die sieben Plurale von Rhabarber“ haben beim Hören fast gar nichts mit „Irma“ zu tun, könnte man denken. Es versammelt skurrile Listen subversiver Wahrheiten der Art „Warum Frauen Salat essen“ oder „Wie man Enten fertig macht“.

Zwar lacht das Publikum nicht wenig, doch der Bruch zum ersten Buch ist da, weil noch keiner im Saal wissen kann, dass die Listen eben auch Teil von „Irma“ sind. Ein wenig scheinen Autor und Publikum mit sich überfordert. Aber das muss ja nichts Schlechtes sein. Es fragt sich, wie die Besucher auf einen Charles Bukowski reagiert hätten. Die Frage ist gar nicht so abwegig. In „Irma“ verweist der Lektor seinen spröden Autor eben an jenen Bukowski: „Sie können ihr Publikum achten, aber sich ihm auch verweigern.“

Von Verweigerung kann im Nerly keine Rede sein. Der Mann auf der Bühne liefert ehrliche Arbeit ab. Dass nicht jeder Witz zündet, ist zu entschuldigen. Denn so ein Witz muss eben auch verstanden sein. Nicht immer leicht bei einem Schreiber, dem die fixe Pointe fast lässlich, zumindest aber suspekt erscheint.

Der Abend mit Tex Rubinowitz war ein besonderer, einer, der nicht so schnell in Vergessenheit gerät. Dem Autor sei gewünscht, sich nicht davor zu fürchten, keinen Gefallen zu finden; dafür sind seine Texte zu gut, und er ist es auch. Und was ist schon die Sorge, nicht zu gefallen, gegen die wirkliche Gefahr: Den falschen Leuten zu gefallen.

So steht der freundlich mutige Mann nach der Lesung wieder am Eingang zum Saal und verabschiedet höflich alle, die nach Hause gehen.

Tex Rubinowitz

Fotos: Holger John, viadata

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