Mechtild Borrmann stellt ihren Kriminal- und Familienroman „Trümmer-Kind“ in der Bibliothek am Domplatz vor
Die unbekannten Toten von Hamburg

Von Sigurd Schwager
Das Leben schreibt Kriminalgeschichten, die man sich kaum auszudenken wagt. Vor 70 Jahren erschüttert einer der rätselhaftesten Kriminalfälle der deutschen Nachkriegsgeschichte die Hansestadt Hamburg: Ein Trümmermörder geht um im bitterkalten Winter 1947.
Am 20 Januar finden Kinder auf einem verlassenen Fabrikgelände die Leiche einer jungen Frau und fünf Tage später Schrottsammler auf einem Ruinen-Grundstück einen toten alten Mann. Bald darauf, am 1. Februar, wird im Fahrstuhlschacht eines zerbombten Hauses ein totes Mädchen und am 12. Februar in Hamburg-Hammerbrook die Leiche einer Frau von etwa 30 Jahren entdeckt.
Vier Tote in so kurzer Zeit: alle erdrosselt, alle nackt, alle gut genährt in Zeiten des Hungerleidens. Und bei allen vier ist der Fundort eindeutig nicht der Tatort. Die Polizei sucht fieberhaft und mit großem Aufwand nach dem Trümmermörder. 50.000 Plakate mit Fotos der Toten hängen in Hamburg und in allen Besatzungszonen. Eine Belohnung lockt.
Doch kein Angehöriger meldet sich. Keines der vier Opfer wird identifiziert. Niemand kennt ihre Namen, nirgends ist eine Spur, die zum Täter führt. Die Mordserie bleibt bis heute unaufgeklärt, ungesühnt.
Es gehört zur Natur der dunklen, geheimnisvollen Fälle, zumal der ungelösten, dass sie uns noch nach Jahrzehnten nicht loslassen, wir ihnen immer wieder auf Zeitungsseiten oder zwischen Buchdeckeln begegnen. Die jüngste literarische Annäherung an die Trümmermorde stammt von Mechtild Borrmann. „Trümmer-Kind“ heißt ihr neuer, eben erst erschienener Roman, den sie zur Erfurter Herbstlese in der Bibliothek am Domplatz den zahlreichen Zuhörerinnen, die Herren kann man an einer Hand abzählen, vorstellt.
Von der mit dem Deutschen Krimipreis geehrten Schriftstellerin aus Bielefeld weiß man, dass sie die Geschichten von Georges Simenon bewundert, die liebevolle Figurenzeichnung, den ruhigen Erzählton. Das klingt angenehm altmodisch in einer Zeit, wo uns im Übermaß Autoren mit blutrünstigen Kriminalromanen behelligen, die der Bestseller-Seziermeister Denis Scheck angewidert Leichenpornos zu nennen pflegt.
Nein, Leichenpornos schreibt Mechtild Borrmann wirklich nicht und auch keine tümelnde Regionalkrimi-Folklore. Die Autorin verknüpft Zeit- und Familiengeschichte und holt Vergangenes in die Gegenwart, wenn sie in ihren Romanen über Tschernobyl, den Gulag oder Nazideutschland schreibt. Man fühlt sich bei ihr erinnert an den berühmten Faulkner-Satz: Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.
Mechtild Borrmanns spannender Kriminal- und Familienroman „Trümmer-Kind“, den der Norddeutsche Rundfunk zu seinem Buch des Monats November erklärt hat, handelt auf verschiedenen Zeitebenen: in der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre und der ersten Hälfte der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts.
Im zerstörten Hamburg finden die Geschwister Hanno und Wiebke bei der Suche nach Brennholz einen verwaisten kleinen Jungen und nehmen ihn mit. Es ist Januar 1947, die Zeit der Trümmermorde. Aus dem Findelkind, genannt Joost, wird viel später ein erfolgreicher Architekt. Als dieser ein Gut in der Uckermark restaurieren soll, nimmt sein Leben eine dramatische Wende.
Mechtild Borrmann trägt die ausgewählten Buchszenen ohne jede Showeinlage vor, konzentriert auf den Inhalt, auf den Klang der Worte, die Klarheit der Sprache. Das tut der Lesung gut und macht es leicht, im steten Wechsel von Raum und Zeit die Übersicht zu behalten.
Die Autorin erzählt dem sichtlich beeindruckten Publikum auch von ihren Recherchen. Sie habe die Akten der Mordserie studiert, Schauplätze besucht, mit Zeitzeugen gesprochen, von denen es immer weniger gebe. „Ich wollte“, sagt Mechthild Borrmann, „mit diesem Buch den Toten von Hamburg einen Namen geben, eine literarische Identität.“
Herzlicher Beifall. Am Ende bedankt sich Herbstlese-Programmchefin Monika Rettig bei Mechtild Borrmann mit dem ebenso schönen wie wahren Satz: „Die ruhige Art Ihres Vortrags entspricht der ruhigen Art Ihres Schreibens.“
Mechthild Borrmann in der Stadt- und Regionalbibliothek Erfurt
Fotos: Uwe-Jens Igel