Traditioneller Start in die Erfurter Herbstlese in diesem Jahr mit einem Trio
Ein Stuhl blieb leer
Von Hanno Müller
Einen Schatz, der endlich gehoben wurde, nennt Felix Leibrock das Buch „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz. Auch er sei beeindruckt, stimmt Matthias Gehler zu. Der Autor schreibe in der Zeit, nicht nachträglich über sie, das sei authentisch. Dirk Löhr findet den „Reisenden“ ehrlich und unverstellt.
Es ist einer dieser Momente, in dem sich die Gesprächspartner einig sind: Das lange verschollene Buch des 1942 jung verstorbenen, jüdischstämmigen Boschwitz ist eine Entdeckung. „Der Reisende“ beschreibt das Schicksal des jüdischen Kaufmanns Otto Silbermann, den Verlust von Wohnung, Beruf, Ansehen und schließlich jeglicher Würde unter den Nazis. Nur noch mit einem Koffer und etwas Geld ist Silbermann auf der Flucht, ohne zu wissen wohin. Boschwitz’ in den 1930ern geschriebener autobiografischer Roman ist damit auch das seltenes Dokument eines Holocaust-Zeitzeugen. „Der Reisende“ wird am 7. November im Haus Dacheröden vorgestellt .
Es ist also wieder Herbstlese-Zeit. Traditionell streiten Pfarrer Felix Leibrock und seine Gäste Matthias Gehler, MDR-Programmchef, sowie Dirk Löhr, Herbstlese-Vereinschef, über eine erste Auswahl der beteiligten Bücher. Das literarische Quartett ist diesmal ein Trio. In Erinnerung an den verstorbenen Mitstreiter Dietmar Herz bleibt der vierte Stuhl im Haus Dacheröden frei.
Kontrovers dagegen das Urteil über das Buch „Prawda“. Felicitas Hoppe reist darin auf den Spuren zweiter Russen der 1930er-Jahre durch das ländliche Amerika. Ein Buch wie die Hoppe selbst, erzählt ohne Punkt und Komma, als würde die Autorin rappen, schwärmt Dirk Löhr. Unlesbar findet es Felix Leibrock. Die Autorin wolle ihre Reise literarisch überhöhen und überspanne dabei den Bogen. Matthias Gehler, der sich an dieser Stelle als unverbesserlicher Sammler auch zeitlich überholter Reiseführer outet, vermisst das Amerika, wie er es kennt oder gern über das Buch vermittelt kennenlernen würde. Immerhin rege ihn Hoppe mit ihrem Parforceritt voller Anspielungen an, ständig zu googeln. Felicitas Hoppe kommt am 14. November ins Haus Dacheröden.
Nach diesem Auftakt ist sicher: Auch diese Herbstlese wird abwechslungsreich. Politischen Stoff liefert der Runde Thea Dorns „Deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“. Ihr von leidenschaftlichen Exkursen in die deutsche Geschichte und Kultur begleitetes Plädoyer für eine offene und tolerante Debattenkultur findet die Zustimmung aller drei Gesprächspartner. Thea Dorn diskutiert am 17. Oktober im Atrium der Stadtwerke.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 19. September in der "Thüringer Allgemeine".
Literarisches Trio
Fotos: Holger John