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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Sept. 28 2023

Charly Hübner und Hans-Dieter Schütt im Erfurter Kaisersaal

Eine glatte Eins plus: Hübner backstage

Zwei Männer, ein Verständnis: Charly Hübner und Hans-Dieter Schütt sorgten im Kaisersaal für einen gar nicht so unkurzweiligen Abend. (Foto: Uwe-Jens Igel)
Zwei Männer, ein Verständnis: Charly Hübner und Hans-Dieter Schütt sorgten im Kaisersaal für einen gar nicht so unkurzweiligen Abend. (Foto: Uwe-Jens Igel)

Von Sigurd Schwager

Erst vier Tage zählt der Herbst, da setzt die 27. Erfurter Herbstlese bereits ein Ausrufezeichen. Charly Hübner kommt! Oberstes Regal. Preise ohne Ende. Ein Ausnahmekönner, vor dem die Schlagzeile strammsteht: „Ein Typ wie ein Ausrufezeichen!“

Dieser Carsten Johannes Marcus Hübner ist ein Phänomen. Was immer man über ihn hört und liest, wen man auch fragt oder wie man es selbst dreht und wendet - irgendwie scheint es ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, den Typen nicht zu mögen. In selten erlebter Einmütigkeit feiert ihn nicht nur ein Millionenpublikum, es wertschätzt ihn gleichermaßen die hohe Kritik und die große Kollegenschaft als einen der besten und beliebtesten Schauspieler des Landes.

Künstlerfreund Heinz Strunk flicht ihm gar den superlativen Kranz als Porträt in einem Satz: „Er kommt aus diesem Hardcore-Meck-Pomm-Milieu, der Vater Kneipenwirt, aber heute ist er der beste Schauspieler Deutschlands, ein klarer Geist, sagenhaft gebildet und dazu menschlich eine glatte Eins plus.“

Wie die allgemeine Lobrede, so auch die Stimmung im ausverkauften Kaisersaal. Herzlich stürmender Willkommensapplaus empfängt den wuchtigen Gast bei seiner Herbstlese-Premiere. Charly Hübner grüßt vergnügt zurück, hinab ins Parkett und hoch auf die Ränge. „Tach auch! Moin! Hallo Thüringen!“ Vergisst dabei nicht, dem Ort des Geschehens seine historische Reverenz zu erweisen: „Hallo Napoleon!“

Spätestens jetzt ist der Hinweis fällig, dass es sich hier in Erfurt um kein Solo für einen solitären Mimen handelt. Neben ihm auf der Bühne sitzt der ebenso mit viel Beifall bedachte Hans-Dieter Schütt, dessen Interview-Buch „Hübner backstage“ der Anlass des Abends ist.  Autor Schütt, vom auch in diesem Metier reüssierenden Frank Quilitzsch rechtens zum „König der Gesprächsbücher“ ernannt, festigt mit seinem jüngsten Werk den Platz auf dem Thron.

Zentrum des Buches sind mehrere lange Gespräche, die mit „Charly Hübner, wozu spielen?“ beginnen und mit der Frage nach seinem Glücklichsein enden. Um das darin Erörterte gruppieren sich erzählende Soli von Schütt und Hübner sowie Texte von Weggefährten des Schauspielers.

Zudem mangelt es nicht an eindrücklichen Bildern. Nur wenige sind privat, Carsten mit Mutter, Vater, Bruder sowie allein im Sheriff-Kostüm. Die meisten dokumentieren Charlys intensive Theaterarbeit in Frankfurt am Main, Zürich, Hamburg und anderswo. Mal ist er Kreon oder Onkel Wanja, mal Charles Bronson oder Frauenmörder Honka.

Man erinnert sich beim Blättern an den einfältigen Kinohelden Karl Schmidt und gruselt sich mit dem Serien-Hausmeister Jaschek Grundmann. Und denkt sich Abwesende hinzu. Zum Beispiel den Stasi-Oberfeldwebel Leye aus dem oscarreifen Leben der Anderen oder den Oberstleutnant Schäfer, der im wahren Leben Jäger heißt und am Schlagbaum Bornholmer Straße Weltgeschichte kommandiert.

Selbstverständlich gibt es in „Hübner backstage“ Bühnenszenen mit seiner Frau, der wunderbaren Schauspielerin Lina Beckmann, und schon gar nicht fehlen darf ein Foto, das Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner gemeinsam in ihren (bislang) berühmtesten Rollen als Katrin König und Alexander Bukow zeigt. Von April 2010 bis zum (freiwilligen) Finale im April 2022 ermitteln sie im Rostocker Polizeiruf. 24 Filme, das Gegenteil von TV-Dutzendware, formieren sich zu einem Reihenereignis der jüngeren deutschen Fernsehgeschichte. Schütt hat Sascha Bukow im Buch gut ausgeleuchtet, den liebenswert Undurchsichtigen, den hart- wie weichgesottenen Rostocker Kommissar, der einen Bogen ins Ruchlose schlägt, mit dem der klassische Gangsterfilm zu einem Abstecher nach Ostdeutschland aufbricht. In Erfurt bleibt Zeit, dem abgängigen Bukow ein wenig sentimental nachzutrauern und zu spekulieren, wo er wohl jetzt sein könnte. In der Ukraine? Im Altai?

Der Eindruck, der einen beim Lesen durch das ganze Buch begleitet, verfestigt sich im Kaisersaal: Der kluge Hans-Dieter Schütt (75) und der schon ziemlich altersweise Charly Hübner (50) - das passt. Beide sind Kinder der DDR, der eine geboren im mecklenburgischen Neustrelitz, der andere 14 Monate vor der Staatsgründung im thüringischen Ohrdruf. Als die Mauer fällt, ist der eine, der vom weltweiten Reporterleben träumt, noch keine 17, während der andere mit 41 in Berlin vor den Trümmern seiner bisherigen Journalistenlaufbahn steht. Doch am Ende haben sich beide in ihren neuen Leben mit all den Brüchen behauptet.

Schauspielfreak Schütt macht aus seiner Bewunderung für Hübners Kunst und seinen Weg dahin keinen Hehl, zitiert im Kaisersaal einschlägige Elogen aus dem Buch: Im Spiel sei Charly ein Ambivalenzen-Artist. König und Kumpel, Prunkperson und Prolet, Banker und Bauer, Bulle und Bastard. Ein Luftgeist mit Schwergewicht... Ob er denn, fragt Schütt in Erfurt den Publikumsliebling Hübner, als Schauspieler von jeder und jedem und gemocht werden wolle? „Nein, um Gotteswillen!“, lautet die wenig überraschende Antwort. Sodann möchte Schütt, selbst ein Wunder an Produktivität, wissen: Wie bitte schafft er das nur alles - Film, Fernsehen und Bühne, Spiel und Regie, Bücher, Hörbücher und Musikprojekte? Ganz genau weiß er das selbst nicht. Aber, sagt er, dahinter sei jetzt zum Glück Struktur. Dem Berichterstatter fällt als Erklärung ein anderes Wort von Hübner über Hübner ein: „Ich lebe gern.“

Insgesamt 90 pausenlose Minuten dauert das Porträt per Gespräch, in dem man zwei reflektierte Menschen erlebt, die druckreif denken und über das Gedachte druckreif reden können. Natürlich merkt man, dass dies nicht ihr erster gemeinsamer Auftritt ist und das Ganze einer stringenten Dramaturgie folgt. Aber man hat nie das Gefühl, sich in einem ausufernden Trailer für das Buch zu befinden. Stattdessen sitzt das Publikum mit am Tisch bei einer sehr ernsthaften, sehr konzentrierten Unterhaltung über Wege und Umwege, Abwege und Zufälle des Lebens und der Kunst, über Ost und West, Gosch und die Theaterwelt, Mahler und Metal.

Eine echte Zuhör-Herausforderung, aber ohne jeden Hauch von Langeweile. Dafür sorgt Charly Hübner mit seinem Gespür für Anekdoten. Wenn er erzählt, wie der kleine Hübner dem großen Tarantino gnadenlos einen Besetzungs-Korb gibt oder wenn er den Kollegen Thieme aus Weimar spielt, wie der ihm das kinderleicht schwere Thüringisch beibringen will, dann hat er die Lacher auf seiner Seite. Wenig später ist er auf der Bühne noch einmal der 17jährie Junge, der die 100 Meter unter 11 Sekunden läuft, sehr passabel Handball spielt und dessen hoffnungsvolle Sport-Karriere urplötzlich mit einem Wort der Ärztin endet. Das große Herz! So muss der Sieg bei der Russisch-Olympiade sein einziges olympisches Erfolgserlebnis bleiben.

Apropos Edelmetall.  „Hübner backstage“ vorangestellt sind die letzten vier Zeilen des Songs „Iron Fist“ von Lemmy Kilmister, dem Frontmann von Motörhead. Das schroffe Lärmuniversum der Metal-Band ist seit den mecklenburgischen Jugendtagen Charlys musikalische Heimat. „Sie haben“, spricht im Kaisersaal Doktor Schütt zum Patienten Hübner, „Heavy Metal im Blut“. „Ich war damals“, antwortet dieser, „das Stromkabel, Motörhead und AC/DC waren die Steckdosen“. Urschrei. Volle Dröhnung. Freiflug in den Himmel. Was das ihm bis heute bringt? „Durch Lärm zur Ruhe kommen.“

Später bietet die Veranstaltung Herbstlese-gerecht sogar noch Vorgelesenes. Charly trägt aus seinem leidenschaftlichen Motörhead-Buch eine Seite vor, die es in „Hübner backstage“ geschafft hat und so beginnt: „Die Zeit rast und das kleine Licht des Lebens juckelt wie ein Vorortzug unaufhaltbar dahin...“

Dann hält der Zug doch. Leider. Die beiden Gesprächspartner reichen sich die Hände, verbeugen und umarmen sich, genießen den rauschenden Beifall.

Und Charly Hübner lächelt: „War doch gar nicht so unkurzweilig.“

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