Michael Grisko tritt mit Verve für eine gerechtere Rezeption Heinrich Manns ein
Eine gute Sache

Keine Feier ohne Meier. Im deutschen Literaturbetrieb heißt das, keine Saison ohne etwas Neues von den Manns. Spätestens seit Heinrich Breloers Verfilmung der Dynastie 2001 über die Bildschirme flimmerte, sind sie auch dem breiten Publikum nahe; so sehr, dass die „Gala“ jubelte: „Unsere Royals sind die Manns.“ Von all dem Trubel droht das Werk dieser Ausnahmefamilie mehr und mehr verdeckt zu werden, fürchtet Michael Grisko. Der Spezialist für Heinrich Mann ist an der Edition dessen Studienausgabe im Fischer-Verlag beteiligt. Im Haus Dacheröden stellt er den Roman „Die große Sache“ vor.
Es ist einer der vier Romane Heinrich Manns aus der Zeit der Weimarer Republik. Vermeintlich die schwächsten seiner Werke, urteilte die Fachwelt bisher; irgendwie seien sie im Anspruch verloren gegangen, der im Leser nach „Der Untertan“ und „Professor Unrat“ nun einmal geweckt war. Auch mit dem Spätwerk könnte dieses Quartett nicht mithalten.
Das sieht Michael Grisko entschieden anders. Er hat ein gutes Jahrzehnt an der Herausgabe des Romans gearbeitet, der nach seinem Erscheinen 1930 ein wenig in Vergessenheit geriet, ehe der Aufbau-Verlag ihn 1972 in der DDR neu auflegte. Eine Lizenzausgabe davon erschien später auch in der BRD. Der ganz große Wurf, so die bisherige Rezeption, ist dem älteren der beiden Mann-Brüder damit nicht gelungen.
Gegen dieses Vorurteil tritt Michael Grisko auch im Haus Dacheröden mit Verve an. Er hat den eigentlichen Roman, knapp 340 Taschenbuch-Seiten, um einen fast 150 Seiten starken Anhang bereichert. Neben Zeittafeln und bibliographischen Angaben, die so eine Studienausgabe ohne Frage bedarf, lassen sich hier viele interessante Dinge entdecken: Das Nachwort Griskos wäre da zuerst zu nennen, aber auch Rezensionen, Zeitungsberichte und Briefwechsel. All das ermöglicht eine Lektüre des Romans mit einem gewissen Verständnis für die Zeit, in der er entstand. Nicht zu vergessen die Lebensumstände des Autors damals.
Diese Lebensumstände sind es, da ist sich Michael Grisko sicher, die unter der Oberfläche des Romans versteckt erst entdeckt werden wollen, ohne deren Entschlüsselung ein tieferes Verständnis misslingen muss. Er verweist auf Thomas Mann, der schnell erkannte, dass sich hinter dem Oberingenieur Birk nur einer verbergen kann – sein großer Bruder Heinrich.
Wie dieser hat Birk sein Vermögen verloren, nicht aus eigener Schuld; die Inflation hat seine Anlagen aufgefressen. So wie sich der gefeierte Techniker plötzlich als einer von vielen sieht, der gezwungen ist, Heil und Sicherheit in einer, gemessen an seinen vorigen Einkünften, schlecht bezahlten Anstellung zu finden, ist Heinrich Mann Vermögen futsch. Er ist jetzt auch Schriftsteller zum Broterwerb; nicht mehr gänzlich frei von den Erwartungen des Publikums, dazu verpflichtet, für den Erfolg auch Kompromisse eingehen zu müssen. So stellt sich eine der spannendsten Fragen: Wie viel ursprünglicher Heinrich Mann steckt letztlich in „Die große Sache“ drin, wie viel Literatur – und wie viel Kolportage?
Es ist dies das Thema des Abends. Dramaturgisch höchst geschickt hat Michael Grisko an dessen Beginn die Schilderung von Siegfried Kracauer aus dem Jahr 1930 gestellt. „Der Dichter im Warenhaus“ zeigt Heinrich Mann bei einer Lesung im Kaufhaus. Er liest dort aus seinem aktuellen Roman; auch eine Szene, in der es um einen Boxkampf geht. Kracauer vermerkt: „Dichter sind heute schick, sie gehen, nein, sie fliegen mit der Zeit.“
Das muss nicht als Kompliment oder wohlwollende Komplizenschaft verstanden werden; eher ein wenig wehmütig: So weit ist es jetzt schon gekommen. Denn die Zeit in der Weimarer Republik rast. Technisch scheint alles möglich, im Film sind die Menschen sogar zu hören. Es herrscht eine fiebrige Atmosphäre, maximale Erwartungen bei größtdenkbarer Verunsicherung.
So wundert es nicht, dass Heinrich Manns Roman an nur drei Tagen spielt. Vom Sturz Birks von einer Brücke bis zu dessen Tod kennt die Handlung nur eins: Tempo. Es werden Boxkämpfe geboten und wilde Autofahrten, es geht um Millionen und Karrieren beim Film alles ist überdreht, eine große Sache eben. Die indes ist nur Fiktion. Das weiß aber nur Birk, das weiß nur der Autor. Und so wie am Ende der Oberingenieur stirbt, ist auch die Idee nichts mehr wert; die Geschichte ist erzählt, der Roman vorbei.
Auch die Lesung respektive der Vortrag von Michael Grisko sind nach fast zwei Stunden zu Ende. Zwei anspruchsvollen und doch unterhaltsamen Stunden, die vor allem einen Wunsch bei vielen der Gäste des Abends wecken: Noch mehr zu erfahren, von Heinrich Mann und seinem Leben, abzutauchen in eine fast vergessene Zeit, die der unseren bei näherer Betrachtung doch in so vielem so ähnlich ist.
Michael Grisko im Haus Dacheröden
Fotos: Holger John