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Erfurter Herbstlese
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März 07 2019

Buchpremiere nach 45 Jahren - „Die zweite Frau“ von Günter Kunert

Geburtstagsgrüße von Erfurt nach Kaisborstel

Thorsten Ahrend (links) und Torsten Unger stellten „Die zweite Frau“ vor. Katrin Heinke las daraus.
Thorsten Ahrend (links) und Torsten Unger stellten „Die zweite Frau“ vor. Katrin Heinke las daraus.

Von Sigurd Schwager

1950 wagt sich im Nachkriegs-Berlin ein junger Mann von 21 Jahren mit seinem ersten Buch an die literarische Öffentlichkeit. „Wegschilder und Mauerinschriften“ heißt der im Aufbau-Verlag erschienene Pappband. 93 Seiten. Lyrik. Ein Gedicht daraus wird es später bis in die Schulbücher schaffen, immer wieder ein gern genommenes Zitat in Gedenkreden und Aufsätzen aller Art.

Die frühen Zeilen von hellsichtiger Schärfe, die ihren Schöpfer ein Leben lang begleiten sollen, er selbst nennt es verfolgen, lauten:

 

 

Über einige Davongekommene


Als der Mensch

unter den Trümmern

seines

bombardierten Hauses

hervorgezogen wurde,

schüttelte er sich

und sagte:

Nie wieder.


Jedenfalls nicht gleich.

 

Nicht jeder Anfang hält, was er verspricht. Dieser schon. 2019, sieben Jahrzehnte nach dem Debüt zwischen zwei Pappdeckeln, blickt Günter Kunert und mit ihm seine getreue Leserschaft auf eine atemberaubende Fülle an Büchern, deren Zahl längst im Dreistelligen angekommen ist. Gedichte, Erzählungen, Essays, Satiren, Reiseskizzen, Miniaturen von aphoristischer Gedanken-Dichte; Kinderbücher, dazu Theaterstücke, Drehbücher, Hörspiele, Features. Nicht minder unübersichtlich: die Vielzahl der die Kunst begleitenden Preise und Ehrendoktorhüte.

Kunert, da gibt es keine zwei Meinungen, ist ein Poet von Graden, dabei ein Hochbegabter für Spott, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Entsprechend singt und klingt es nun zu Kunerts 90. im Feuilleton vom großen alter Mann der deutschen Nachkriegsliteratur, von einem der wenigen seiner Generation, die wir noch haben.

Doch besser als dieser Elogen-Chor dürfte dem Dichter die beträchtliche Aufmerksamkeit gefallen, die seinem neuen Buch „Die zweite Frau“ widerfährt, das pünktlich zum runden Geburtstag vorliegt. Ein Schelm, der Zufall dabei denkt.

Kein Zufall ist es, dass der Erfurter Herbstlese-Verein das Werk genau am 6. März im Dacherödschen Haus präsentiert. So kann die bestens besuchte Veranstaltung – zusätzliche Stühle müssen herbeigeschafft werden – zur stimmungsvollen Feier des abwesenden Herrn Kunert geraten. Gleich zu Beginn gratuliert das Publikum lautstark, schickt herzlichen Beifall von Erfurt hoch in den Norden nach Kaisborstel in Schleswig-Holstein, wo der Dichter seit seinem Weggang aus der DDR lebt.

Das Besondere an diesem erst zweiten Roman Kunerts: Es ist ein neuer alter, der auf Seite 200 kurz und knapp so endet: „Geschrieben 1974/75“. Ein satirisches Werk der tragikomischen Art. Es handelt von Barthold, einem Archäologen, der nach einem Geschenk zum 40. Geburtstag seiner Frau sucht, die er so wenig mag wie das Land, in dem er lebt. Ulbricht, Intershop, Stasi, Neues Deutschland als Klopapier: Dass eine drastische Zustandsbeschreibung der DDR in selbiger nicht druckbar ist, steht außer Frage. Das Manuskript verschwindet in den Untiefen des Archivs.

Ob er später wirklich nie an diesem Roman gedacht habe, ist Günter Kunert neulich in einem Zeitungsinterview gefragt worden. Seine Antwort: „Nein, wirklich nicht!“ Erst der ganze Trubel mit Biermanns Ausbürgerung, dann im Gefolge 1979 die eigene Ausreise aus der DDR, der Neuanfang im Westen. „So vor drei Jahren habe ich angefangen, in den alten Kisten zu kramen und Gedichte von damals zu suchen, um sie aufzuarbeiten. Gedichte sind ja etwas, an dem man lange arbeitet. Und plötzlich hatte ich den Roman in der Hand. Er sah furchtbar aus. Mit Maschine geschrieben und ganz viel reingekritzelt. Ich habe ihn zum Abschreiben gegeben und war neugierig, ob er was taugt. Dann habe ich drin geblättert und fand es von der Zeit nicht zernagt und vielleicht ganz interessant. Der Hanser-Verlag wollte den Roman nicht drucken. Dann habe ich ihn zu Wallstein gegeben, zwei Tage später hatte ich den Vertrag.“

Und nun haben wir das Werk. Der eine Kritiker nennt es „Kunerts funkelnde Flaschenpost“, der andere „DDR-Gruß aus der Kellerkiste.“ Das Buch ist versehen mit einer Zeichnung des Dichters und – wie immer beim Göttinger Wallstein Verlag – auch ein gestalterischer Genuss.

Kunerts Wallstein-Lektor Thorsten Ahrend erzählt in Erfurt im launig-kundigen Gespräch mit Torsten Unger vom MDR manch interessantes Detail. Er habe, sagt der Lektor, kaum lektorieren müssen, denn es sei im Grunde eine fertige Arbeit gewesen. Der große Spötter Kunert gebe darin seinem Affen Zucker und verschmähe vielleicht deshalb auch grobe Späße nicht, weil er genau wusste, dass sein Roman niemals in der DDR veröffentlicht würde.

Wie es dem Dichter heute gehe, möchte das Publikum wissen. Das Alter fordere seinen physischen Tribut, berichtet Ahrend, aber der Geist bleibe hell. Ein sehr wacher Zeitgenosse sei er und unheimlich neugierig. Er schreibe jeden Tag. Kunert genieße die Aufmerksamkeit, die sein Roman gefunden habe, und freue sich über die vier Auflagen binnen kurzer Zeit. Als dann der Verleger aus einem Telefonat mit dem 90-jährigen Dichter zitiert („Vom Friedhof nichts Neues“) und für das kommende Jahr das nächste Kunert-Buch ankündigt, raunt es zustimmend im Saal.

Dass des Dichters schöner Erfurter Geburtstagsabend wie im Fluge vergeht, ist neben dem interessanten Gespräch der Herren Ahrend und Unger auch der Erfurter Schauspielerin Katrin Heinke zu verdanken, die mit zwei vorgetragenen Buchpassagen (ein Albtraum mit Walter Ulbricht im Luftschutzkeller sowie ein Besuch im Intershop) Lust auf eigenes Lesen macht.

Die fünfte Auflage kommt gewiss.

Günter Kunerts 90. Geburtstag

Fotos: Uwe-Jens Igel

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